Kreuzberger Chronik
Juni 2009 - Ausgabe 108

Strassen, Häuser, Höfe

Die Riemannstraße


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von Werner von Westhafen

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Er war höflich, aber er hatte Überzeugungen. Sie brachten ihm Gefängnis, ein Denkmal und ein Straßenschild ein. In einem Viertel, dessen Bewohner sich auch 170 Jahre nach der Wartburgrede widerspenstig zeigten

AM 18. OKTOBER 1817, dem 4. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, wanderten 468 freiheitsliebende Studenten auf eine Burg, belagerten den Hof und verkündeten einen dreitägigen Burgfrieden. Sie hielten schwärmerische Reden und besangen die Freiheit und ein geeintes Deutschland. Zudem jodelten die jungen Leute nach Herzenslust, was während der Herrschaft der Franzosen unter Androhung »dreitägiger Karzerstrafe« noch streng verboten gewesen war. Auch der konservative Rektor der Universität von Jena sprach Stirne runzelnd vom ululare in modum Tirolinensum, denn mit Andreas Hofer, einem Freiheitskämpfer aus den Tiroler Bergen, war das Jodeln der friedlichen Almhirten zum Schlachtruf der Revolution mutiert. Hofer wurde von den Franzosen sogar zum Tode verurteilt, weshalb es in Kreuzberg bis heute einen Jodelkeller gibt.
Auf der Wartburg, vier Jahre nach der Befreiung, war das Jodeln wieder erlaubt. Doch die Studenten, die so leidenschaftlich für ihre Ideale gekämpft hatten, waren enttäuscht. Einer der Redner, der selbst drei Tage wegen Jodelns im Keller gesessen hatte, sagte: »Das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefasst. Sie sind alle vereitelt. Alles ist anders gekommen, als wir erwartet hatten. Viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und musste, ist unterblieben.«
Der junge Redner hieß Heinrich Arminius Riemann. Er war ein Mann, der nicht viel Wirbel machte um seine Person, und er gehörte auch nicht zu jenen radikalen Burschenschaftlern, denen zum Ärgernis Heinrich Heines »nichts Besseres einfiel«, als Bücher konservativen Gedankenguts auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Andererseits forderte Riemann die Studenten unmissverständlich auf, dem Volke zu »zeigen, was es von seiner Jugend zu hoffen hat.« Zwei Jahre später saß Riemann abermals hinter Gittern. Gemeinsam mit Ludwig Jahn, dem kämpferischen Turnlehrer aus einem Föhrenwäldchen an der Hasenheide, wurde auch Riemann des Hochverrats verdächtigt, doch nach vier Wochen wieder laufen gelassen.

Seine erste Rede hält der Sohn der Pfarrerstochter Lowisa Carolina Schmiedeke und des Rectors der Domschule, Friedrich Lust Gottlob, als Achtzehnjähriger. Nach einer Abschiedsrede in fließendem Latein erhält er die Universitätsreife, im Katharineum von Lübeck bezeichnet man ihn als »fein, bescheiden und still«. 1812 reist er zum Theologiestudium nach Jena, und als am 17. März 1813 der König zum Kampf gegen Napoleon aufruft, zieht der begeisterte Pfarrerssohn an der Seite des Turnvaters Jahn für die Freiheit aufs Schlachtfeld.
Die jungen Freiheitskämpfer erhofften sich von der kriegerischen Allianz der Fürstentümer die Bildung eines deutschen Staates. Doch die
Foto: Dieter Peters
Hoffnung auf ein vereintes Deutschland zerschlug sich, weshalb die Studenten beschlossen, zumindest die Burschenschaften über die Ländergrenzen hinweg zu vereinen. Als Napoleon 1815 eine zweite Offensive startete, wurde Riemann schwer verletzt. Er folgte dennoch dem Heer nach Norden und erhielt bei der finalen Schlacht von »Belle Alliance« am 18. Juni das »Eiserne Kreuz« der Tapferkeit.
Dessen ungeachtet wurde er 1818 seiner politischen Gesinnung wegen exmatrikuliert, und ein Jahr später, nachdem Fürst Metternich mit den Karlsbader Beschlüssen eine juristische Grundlage zur Verfolgung der so genannten Freiheitskämpfer geschaffen hatte, sogar unehrenhaft aus der Landwehr verabschiedet. Nachdem Riemann auch sein Leutnantspatent verloren hatte, zog er sich nach Eutin in die Provinz zurück, wo er eine Anstellung als Lehrer fand und nach dem Vorbild des großen Turnvaters die Jugend fürs Turnen begeisterte. 1828 erhielt der »wackere Bildner Eutinischer Jugend« den Silbernen Ehrenbecher, alles schien friedlich, doch 1833 wurde das Haus des ewigen Burschenschaftlers abermals durchsucht. Riemann war ausgegangen, seine Frau sah die Polizisten kommen und versteckte die verdächtigen Schriften unter den Kissen der an Scharlach erkrankten Kinder. Die Fahnder zogen ab, Riemann durfte weiter turnen, und 1876 errichteten einige wackere Eutiner ihrem »Turnwart« sogar ein Denkmal.

In Kreuzberg erinnert heute eine Straße an den freiheitsliebenden Turner. Es ist eine kleine Straße, doch in der Mitte ist ein kleiner Platz mit Bänken entstanden. Im Schatten der Bäume sitzen die Gäste eines italienischen Restaurants an den Tischen und plaudern, Kinder spielen, der Trubel der Bergmannstraße scheint weit entfernt. Die kleine Oase ist das Resultat eines mehrere Jahre andauernden Kampfes engagierter Bürger gegen die Behörden. Im Sommer 1987 endlich konnten Mireille Burland und die Verkehrsberuhigungsinitiative Nostitz-Solms-Riemannstraße, die eine Spielstraße für ihre Kinder schaffen wollten, die Sperrung durchsetzen und die Autofahrer in die Schranken weisen. Doch weder die Gäste noch der Wirt des Lokals wissen heute noch, wem sie den kleinen »Riemann-Platz« zu verdanken haben.
Den Burschenschaftler vergaß man nicht so schnell. Anlässlich des 50. Jubiläums des Wartburgfestes sollte der alte Riemann noch einmal ans Rednerpult treten. Er verfasste eine Rede, geprägt von »jugendlichem Elan« und vom »Geist der 48er Revolution«. Doch zum Reisen fühlte er sich zu schwach, ein anderer Redner verlas seine Worte. 1871 lässt Bismarck den Traum des Burschenschaftlers vom geeinten, freien Deutschland in Erfüllung gehen, ein Jahr später kann sich Heinrich Arminius Riemann endlich zufrieden zur Ruhe legen. •


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