Kreuzberger Chronik
Juli 2009 - Ausgabe 109

Kreuzberger
Bolormaa Byambajav

Manches im Leben passiert einfach so


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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DIE MONGOLEI ist ein weites und menschenleeres Land, mit grünen und blühenden, aber unwegsamen Berglandschaften im Norden, mit einer der trockensten und endlosesten Ebenen der Welt: der Wüste Gobi. Noch heute kann man stundenlang auf einer der wenigen Straßen in eine Richtung fahren, ohne ein menschliches Wesen zu treffen.
Um dieser Armut an Menschen zu begegnen, erhielten die mongolischen Frauen für das fünfte Kind einen silbernen Orden, und für das achte einen goldenen. Für Bolormaa Byambajav erhielt die Mutter die silberne Medaille. In einer hölzernen Hütte in der Nähe des Gefängnisses bei dem Dorf Airag, in dem ihr Vater sein kleines Büro hatte, wurde sie geboren. Oft ist sie auf dem Schulweg noch einmal bei ihm vorbei gegangen. »Er hatte immer irgendetwas Süßes in der Schublade versteckt, ein paar Rosinen, Nüsse, Gebäck. Gummibärchen gab es noch nicht.«

Im letzten Sommer ist sie zurückgekehrt, um Stefan ihr Land zu zeigen. »Da hinten!« sagte sie und deutete in eine Richtung. Stefan blickte in die Weite der Landschaft, aber da war nichts mehr. Kein Haus, keine Jurte, nichts. Mit den Gefangenen, die im Steinbruch arbeiteten, waren auch die hölzernen Hütten des Gefängnispersonals wieder verschwunden. Die Wüste war zurückgekehrt. »Das ist ja wirklich das Ende der Welt«, murmelte Stefan.
Der Kontrast ist hart. Der Marheinekeplatz mit seinen Cafés und Restaurants vor der Markthalle ist das Gegenteil vom Ende der Welt. Bolormaa Byambajav jongliert das Tablett durch die voll besetzten Tischreihen, bleibt stehen, plaudert mit einem Stammgast, der jeden Morgen hierher kommt, um Kaffee zu trinken. Lachend stellt sie den Espresso ab und geht zurück. Sie sieht nicht, dass der Gast lächelt. Er lächelt über die Freundlichkeit der Mongolin. Es ist die Freundlichkeit der Menschen aus einem menschenleeren Land. Einem Land, in dem Begegnungen noch etwas Besonderes sind.
Es war ein weiter Weg vom Ende der Welt bis zum Marheinekeplatz. Manchmal, wenn die Mongolin hinter der Espressomaschine steht und aus dem Fenster nach draußen auf die Bergmannstraße blickt, dann sieht sie das kleine Mädchen nicht, das mit dem Fahrrad angehalten hat und ihr zuwinkt. Dann sieht sie die Wüste, die 500 Schafe ihres kleinen Bruders, die Kühe, Pferde, Kamele, Ziegen, mit denen er über das Land zieht. Manchmal versucht sie ihn auf seinem Handy anzurufen, doch er ist oft tagelang in den Funklöchern der Gobi verschwunden. »Er muss immer auf einen Berg steigen, wenn wir telefonieren wollen! Die Wüste ist wild. Und kalt im Winter. Vor zwei Jahren sind 500 Tiere erfroren. Wochenlang war es 40 Grad unter Null!«
Doch die Wüste ist auch schön. Die Kellnerin erzählt gern von der Wüste. Sie freut sich, wenn sich jemand für das Ende der Welt interessiert. Dann wird die stille, höfliche Kellnerin beredt, dann sprudelt es aus ihr heraus, die Stimme hüpft wie bei kleinen, aufgeregten Mädchen. Doch plötzlich hält sie inne und sagt: »Aber ich will deine Zeit nicht verschwinden lassen.« Das ist einer jener Sätze, an denen die
Foto: Privat
Gäste spüren, wie wichtig ihr die Worte sind. Wie sie jedes Wort auswählt, jede Formulierung der fremden Sprache reflektiert.

Einmal hatte sie Steine aus der Gobi mitgebracht, um einem Gast zu zeigen, wie bunt die Wüste ist. Kleine, in allen möglichen Farben schillernde Steine. Sie legte sie auf einen Teller, und jeder, der die bunten Steine sah, blieb stehen und fragte danach. Die Mongolin war glücklich. Wie immer, wenn sich jemand für ihr Land interessiert. Schon als Kind hatte sie Taschen voller Steine. Vielleicht liegt es an ihrem Namen, Bolormaa bedeutet »Bergkristall«. Und während ihre Brüder Waschmaschinenmotoren an ihre Fahrräder schraubten und durch die Wüste fuhren, trieb sie sich in der Nähe des Hauses herum und sammelte Steine. Sie wollte die Mutter nicht so lange allein lassen. Die Mutter weinte so viel, seit der Vater gestorben war. Er starb kaum hundert Meter von seiner Frau entfernt, die Ärztin war. Niemand bemerkte, wie der Mann im Büro zusammenbrach. Und Bolormaas jüngerer Bruder, der gerade drei Jahre alt geworden war, rannte auf der Suche nach dem Vater noch Jahre lang jeder Uniform hinterher. »Ich erinnere mich, dass ich beim Spielen immer ganz schnell ins Haus gerannt bin, um zu gucken, ob Mama wieder weint. Und dann hab ich ihr Blumen gepflückt. Ich bin halt so ein fürsorglicher Mensch.« Sagt die Kellnerin und lacht.
Es war ein langer und ein kurvenreicher Weg vom Ende der Welt bis zum Marheinekeplatz. Ein Weg voller Prüfungen. Ihre Mutter nahm nach dem Tod des Vaters eine Stelle in einem Krankenhaus im Norden an und zog mit den Kindern in eine Gegend, in der es Wälder, Wiesen und Flüsse gab. Ihre Brüder lernten schwimmen, aber das Mädchen spielte weiter mit Steinen. Als die Medizinstudentin im Stadtbad Schöneberg ihren ersten Schwimmkurs absolvierte, war bereits das nächste Jahrtausend angebrochen. Fünf Jahre dauerte es, bis sie endlich vom Dreimeterbrett sprang und die Freischwimmerurkunde in den Händen hielt. Ihre Freunde applaudierten frenetisch. Auch für das Fahrradfahren brauchte sie Monate, und als sie den PKW-Führerschein machte, fiel sie glatt zweimal durch. Stefan, die Freundinnen, der Chef der Enoteka, sogar der Fahrlehrer waren verzweifelt. Den dritten Versuch wagte sie am 10. Dezember, es war ihr Geburtstag. Doch Frau Byambajav verriet nichts. Sie »wollte nicht bevorzugt werden!« Und fiel noch einmal durch. Erst der vierte Versuch gelang.
Es war auch ein Weg voller Enttäuschungen vom Ende der Welt bis • zum Marheinekeplatz, und er führte nicht wirklich ans Ziel. Bolormaa Byambajav hatte Literatur studieren wollen. Doch es gab kaum Studienplätze für ein so unbedeutendes Fach. Kultur war Luxus in einem Land, das so weit und menschenleer und unfortschrittlich war. Was man brauchte, waren Ärzte, Geologen, Ökonomen. Also begann Bolormaa mit dem Medizinstudium, arbeitete als Krankenschwester und impfte fünf Jahre lang die Kinder gegen Masern, Windpocken, lauter harmlose Kinderkrankheiten. »Es war eine schöne Zeit!« Und dann heiratete sie Altanbajar, der sie so lange umwarb, bis sie endlich nachgab. Tunshinerdene, ihr Sohn, wurde geboren. Tunshinerdene, das bedeutet »stiller Schatz«.
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Eines Tages aber rief ihr Bruder aus Deutschland an. Ihr Bruder, der in Leipzig Fotografie und an der Humboldt-Universität Japanistik studiert hatte, und der inzwischen bei der Botschaft arbeitete. Er überredete sie, nach Berlin zu kommen und zu studieren. »Manche Dinge im Leben passieren eben einfach so. Ich habe mir nichts dabei gedacht. So viele bei uns sind ausgewandert, nach Amerika, Korea, Deutschland. Es war selbstverständlich, dass man die Familie zurück ließ, wenn man ins Ausland gehen konnte.«

Am 29. Mai 1998 landete die Frau vom Ende der Welt auf dem Flughafen in Schönefeld. »Ich war total enttäuscht, als alle so klein waren. Ich kannte nur diese großen Männer von Derrick oder vom Polizeifunk 110. Die kamen immer im Fernsehen. Und ich erinnere mich noch, wie ich erschrocken bin, als ich auf der Straße plötzlich einen Schwarzen gesehen habe. Ganz schwarz war der!« Am Abend, als sie mit der Familie des Bruders beim Essen saß, lernte sie ihr erstes Wort. Die Kellnerin der Enoteka braucht es auch heute noch oft: das Wort »Gabel«.
Es war ein langer, beschwerlicher, aber auch ein lehrreicher Weg vom Ende der Welt bis zum Marheinekeplatz. Der Bruder bezahlte eine Schule, auf der sie Deutsch lernen sollte. Dennoch verstand sie bei den Vorlesungen nur die Hälfte. Und wenn sie bei den deutschen Kommilitoninnen um Hilfe bat, dann hieß es: »Tut mir leid«. Bolormaa Byambajav hat das nie verstanden. »Wenn bei uns in der Mongolei ein Fremder auftaucht, dann fragen wir sofort, ob wir helfen können.« Dann fügt sie hinzu: »Aber vielleicht kann man das auch nicht miteinander vergleichen. So ein menschenleeres Land und Berlin.«
Damit sie während der Vorlesungen nicht untätig herum saß, wäh
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rend die andern emsig ihre Notizblöcke voll kritzelten, begann die Studentin, Briefe nach Hause zu schreiben. Briefe an die Schwestern, die Brüder, die Mutter, den Mann und den Sohn. Briefe, in denen sie von der Landsberger Allee erzählte, in der abends so früh die Lichter ausgingen, in der alles grau war, in der »alle immer nur schlafen.« Nachts saß sie über den Büchern, bis drei Uhr morgens, und las das nach, was sie während der Vorlesung nicht verstanden hatte. Das geschriebene Wort verstand sie. Sie kannte die lateinischen Begriffe. Das merkten auch die Deutschen. Plötzlich kamen sie zu ihr. Und auch die Anatomie beherrschte die Mongolin perfekt. So machten die Kommilitoninnen dann ihre kleinen Tauschgeschäfte. »Aber es ging nichts ohne Gegenleistung!«
Es war aber nicht nur ein beschwerlicher und lehrreicher, es war auch ein trauriger Weg vom Ende der Welt bis zum Marheinekeplatz. Einmal nur waren ihr Mann und ihr Sohn zu Besuch in Berlin gewesen, doch während des vierten Semesters erhielt sie plötzlich einen Anruf von Zuhause, dass es ihrem Mann sehr schlecht gehe. Die Medizinstudentin reiste in die Mongolei und sah, wie nah Altanbajar dem Tod war. Aber in der Mongolei verschweigt man Todkranken die Wahrheit. »Ich habe ihm gesagt, dass er wieder gesund werden würde. Und er hat mir geglaubt.« Bolormaa lächelt viel, wenn sie spricht. Dieses Mal lächelt sie nicht.
»Manche Dinge im Leben passieren eben einfach so. Ohne Grund. Ohne Sinn.« Zurück in Berlin schloss sie sich ein. Schaltete das Handy ab. Ließ die Läden herunter. Ging nicht mehr fort und sprach nicht mehr mit ihren Freunden. Sie fühlte sich wie einst die Mutter. Doch es war kein Kind da, das ihr Blumen gebracht hätte. Das Kind war am anderen Ende der Welt. Und der junge Mann auf dem Ausländeramt im Wedding sagte jedes Mal das Gleiche zu ihr, drei Jahre lang, egal, ob die junge Mutter in seinem Zimmer weinte oder lachte: »Sie müssen warten! Sie müssen warten. Aber es war doch mein Kind!« Der Deutsche hielt sich an die Regel. Er hätte nach einer Lücke im Regelwerk suchen können, aber er tat es nicht. »Vielleicht hatte er einen strengen Chef?« Die Mongolin sucht nach einer Entschuldigung für ihn. Vielleicht hätte er ja auch anders reagiert, wenn sie vom Tod des Vaters erzählt hätte, und davon, dass Tunshinerdene schon seit zwei Jahren ohne Vater und Mutter ist. »Aber auf dem Amt hast du keine Zeit, großartig Geschichten zu erzählen.« Sie brachte auch nie eines dieser Bilder mit, die ihr der
Mit ihrer Mutter, ihrem Mann und einem Freund der Familie Foto: Privat
»stille Schatz« schickte. Bilder aus einer einsamen, weiten Landschaft, wo irgendwo ganz klein ein Kind ist, und ganz am Rand eine Mutter. Und oben, auf einer Wolke, sitzt ein Mann und schaut herunter.
Aber es war nicht nur ein trauriger und schwerer Weg vom Ende der Welt bis zum Marheinekeplatz. Ihre Freunde ließen sie nicht allein, sie befreiten sie allmählich aus der Dunkelheit der Landsberger Allee. Die Studentin begann, in der Enoteca am Marheinekeplatz zu arbeiten. Eines Tages saß Stefan am Tisch. Ein ruhiger, freundlicher Mann. Ein Mensch, der viel herum gekommen war in der Welt. Ein Mensch, der sah, was für eine seltene und schöne Frau die Mongolin war. Eines Tages reiste er mit ihr in die Mongolei, um zu heiraten, und um den Sohn endlich zu seiner Mutter zurück zu bringen.

Bolormaa Byambajav bringt Espresso und Rhabarberkuchen an die sonnigen Cafétische. Gegenüber sind Schulkinder auf dem Heimweg. Tunshinerdene ist groß geworden, ein junger, hoch gewachsener Mann. Tom nennen ihn die Freunde. Nächstes Jahr wird er das Abitur machen. Manchmal kommen Freundinnen von ihr in die Enoteca, dann sitzen sie bis spät abends und lachen: Kommilitonen, Bekannte aus der Mongolei, hin und wieder kommt auch Stefan auf ein Glas Wein zum Feierabend. Das Leben ist schön.
Ärztin wird sie nicht mehr werden. Sie kann den Anblick von Spritzen nicht mehr ertragen, seit sie am Krankenbett ihres Mannes saß. Sie denkt nicht mehr ans Medizinstudium. Ans Schreiben denkt sie noch. An die Literatur. Es ist so ein langer, weiter Weg gewesen, vom Ende der Welt bis hierher. Sie hätte so viel zu erzählen. Von den Pferden, auf denen sie einst durch die Wüste galoppierte, bis zu dem Mercedes, mit dem sie jetzt durch Kreuzbergs Straßen fährt. Sie hat nie aufgehört zu schreiben seit sie am Krankenbett ihres Mannes saß. »Ich möchte die Sonne sehen, hat er immer gesagt. Ich möchte hier raus.« Bolormaa Byambajav antwortete, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass es bald warm und Frühling werden würde. Doch »draußen schneite es und schneite es, es war so dunkel, es hat nie, nie, nie wieder so viel geschneit wie damals.« Sie schrieb:
Die Sonne wolltest Du sehen Aber es kam Schnee, als Du gingst. Dein Wunsch blieb unerfüllt, für immer.


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