Kreuzberger Chronik
Februar 2009 - Ausgabe 104

Strassen, Häuser, Höfe

Das Tommy Weisbecker-Haus


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von Edith Siepmann

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EINE GESCHICHTE VON KÖNIGEN, HERUMIRRENDEN UND EINEM BESTETZTEN HAUS

Was haben die Leute nicht schon alles versucht, um sich in vergangene Zeiten zurück zu versetzen! Es wurden Zeitmaschinen gebastelt, Museen eingerichtet, Ben Hur-Filme gedreht, Moden wieder aufgenommen, doch immer klebt irgendeine Differenz an allem. Brechts Ballhaus in Bilbao ist kaum wieder zu erkennen: Auf dem Tanzboden wächst kein Gras mehr, der rote Mond ist abbestellt. Er scheint auch nicht mehr durch die Dächer, unter denen die Kreuzberger Subkultur der frühen siebziger Jahre experimentierte.

Wer sich darüber nichts vormacht, aber trotzdem Lust verspürt, sich von einem Hauch der Atmosphäre jener Jahre anwehen zu lassen, der ist mit dem Georg von Rauch-Haus oder dem Tommy Weisbecker-Haus in der Wilhelmstraße gut bedient. Georg und Thomas, nach denen die Gebäude benannt sind, besuchten Mitte der sechziger Jahre die Kieler Gelehrtenschule, wurden in Berlin zu Anarchisten und Anfang der siebziger Jahre von Polizeibeamten erschossen.

Die Juristen, mit denen sie in ihren kurzen Leben so häufig zu tun hatten, trugen eine Amtstracht, die verdeutlichen sollte, dass ihre Träger nicht als Individuen handelten, sondern als Vertreter des Rechtsstaates. Der Erfinder dieser Kleidung war niemand anders als jener Mann, der die Wilhelmstraße mit dem späteren Weisbecker-Haus einst bauen ließ: Friedrich Wilhelm I, König von Preußen, Sohn des »Alten Fritz«, nach dem wiederum die parallel verlaufende Friedrichstraße benannt ist. Der Wortlaut des königlichen Robendekrets von 1726 hätte die volle Zustimmung der beiden Anarchos gefunden: »Wir ordnen und befehlen hiermit allen Ernstes, dass die Advocati wollene schwarze Mäntel, welche bis unter das Knie gehen, unserer Verordnung gemäß zu tragen haben, damit man die Spitzbuben schon von weitem erkennt.«

Das Auf- und Ausbruchsfieber, das in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Jugend ergriff, erreichte am Ende des Jahrzehnts auch die Familien- und Heimkinder. Es war die Zeit der großen Flatter. 1.000 bis 1.500 Kinder irrten Ende der Sechziger Jahre in Berlin umher.
Foto: Edith Siepmann
Viele dieser »Trebegänger« kamen vorübergehend in Kommunen und Wohngemeinschaften unter. 1971 besetzten einige dieser Treber zusammen mit Lehrlingen und Schülern das Schwesternheim des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses, das spätere Rauch-Haus. 1973 folgte das Haus in der Wilhelmstraße Nummer 9. Es war zuvor von Gastarbeitern bewohnt, gehörte inzwischen dem Senat und stand seit Jahren leer in der Brachlandschaft des ehemaligen Regierungsviertels herum. Der Tag des Einzugs war der 2. März. An diesem Tag war ein Jahr zuvor Thomas Weisbecker erschossen worden. Damit war das Haus von Anbeginn ein politisches Haus, und als 1975 der CDU-Politiker Peter Lorenz von der Bewegung 2. Juni entführt wurde, der Weisbecker nahe gestanden hatte, drängte sich nach polizeilicher Arithmetik die Gleichung 2. Juni = Lorenzräuber, Weisbecker = 2. Juni, ergo Lorenzgefängnis = Weisbecker-Haus auf. »Etwa drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei, zwei Wasserwerfer, Hundestaffeln und Spezialeinheiten standen vor dem Haus. Türen wurden mit Äxten und Brecheisen aufgebrochen. (...) Als um 5 Uhr das Wüten zu Ende war, notierten wir 25 zerschlagene Fensterscheiben, demolierte Türen und Fensterrahmen, drei zertretene Plattenspieler, zwei demolierte Waschmaschinen, einen demolierten Fernseher (...) 20 Jugendliche wurden festgenommen«, berichtet ein Augenzeuge. Das Haus war nicht mehr bewohnbar.

Das Kalkül des Senats jedoch ging nicht auf. Lorenz blieb verschwunden, und den Besetzern wurde durch öffentlichen Druck ein dreißigjähriger Mietvertrag zugestanden. Erst kürzlich wurde dieser Vertrag um weitere 30 Jahre verlängert.

Noch immer bewohnen rund 40 junge Erwachsene das Haus, viele von ihnen sind arbeitslos, und 4 Zimmer werden weiterhin für Treber freigehalten, die vor allem im Winter kommen. Andere Räume stehen für unterschiedliche soziale und künstlerische Projekte zur Verfügung. Im Café »Linie 1« tobt sich die Berliner Musikundergroundszene aus; in einem Veranstaltungssaal gibt es Partys, Filmaufführungen und politische Veranstaltungen; unter dem Dach wird Tango getanzt und Sport getrieben.

Die Fördermittel für das Haus wurden dennoch komplett gestrichen. Das hindert den Senat allerdings nicht, Werbung mit dem illustren Haus zu machen, dessen Rundum-Bemalung das Auge der Touristen bezaubert. Es ist in seiner Pracht das letzte seiner Art. Doch der Putz bröckelt. Thomas Kramer, genannt »Otto«, ist der »Hausmeister«. Er zog 1978 ein und ist gezeichnet von den zahllosen internen und externen Querelen, Einschüchterungen, Attacken und Missständen. Es gibt kein Geld mehr, wenig Gemeinschaftsgefühl, und es fehlt an Engagement. Der rote Mond ist abbestellt.

Foto: Edith Siepmann


Thomas Kramer, genannt Otto,
»Hausmeister« und »Gute Seele« des Hauses:
»Früher sind wir noch gemeinsam zu Demos gegangen,
heute tun das nur noch wenige.«

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