Kreuzberger Chronik
April 2009 - Ausgabe 106

Herr D.

Der Herr D. im Ärztehaus


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von Hans W. Korfmann

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>DER HERR D. hielt sich von alpinen Urlaubsorten fern, seit die Menschenschlangen vor den Liften unübersichtlich geworden waren. Als er im Radio von dem Zusammenstoß eines Ski laufenden Ministerpräsidenten mit einer Ski fahrenden Mutter hörte, nickte er deshalb zufrieden mit dem Kopf. Nach einem Bericht über den Gesundheitszustand des Ministers und verschiedenen Statements verschiedener Ärzte schüttelte er den Kopf. Als er dann aber am Ende der fünfminütigen Berichterstattung erfuhr, dass die Ski fahrende Mutter bereits verstorben war, drehte er dem Sprecher den Strom ab. Auch an den kommenden Tagen wurde die unprominente Mutter nur mit einem lapidaren Satz am Schluss erwähnt.

Der Minister war bereits aus dem Koma erwacht, Neurologen, Heilpraktiker und Psychologen kümmerten sich um ihn, als der Herr D. Frau Burghardt traf. Sie hatte sich die Schulter gebrochen und war im Krankenhaus gewesen. »Aber den Arzt hab ich nur gesehen, als ich meine Zustimmung zur Operation gegeben hab. Also quasi zum Geschäftsabschluss. Nicht mal zur Entlassung kam einer. Also, wenn ich ein Auto wäre, und die würden da was am Motor machen, dann würden die doch wenigstens mal starten, oder?«
Der Herr D. beschloss, die betagte Nachbarin ins neue Ärztehaus zu begleiten. Aber auch dort vermied man es, sich den Arm der Patientin anzusehen. Stattdessen outete sich der Arzt als Neukreuzberger und erzählte dem Herrn D. etwas über seine Frankfurter Studienzeit. »Wollen Sie sich den Arm nicht ansehen?«, unterbrach ihn Herr D. Der Arzt krempelte den Ärmel der Nachbarin hoch. »Na, das ist doch schön verheilt«, sagte er, ging zum Schreibtisch und starrte in den Computer.

Da sah er, dass die Operation schon drei Wochen zurücklag. »Und man hat Ihnen keine Krankengymnastik verschrieben?« Er telefonierte und sagte: »Also, nächste Woche ist ganz schlecht und übernächste Woche auch. Frühestens am…« – Herr D. sagte: »Nicht frühestens, sondern sofort!« Der Arzt sah ihn streng an. »Glauben Sie bitte nicht, dass unser Gesundheitssystem etwas mit gesundem Menschenverstand zu tun hätte.« Dann begann er über das System zu lamentieren. Herr D. unterbrach ihn: »Ich bin nicht gekommen, um über Politik zu diskutieren. Ich wollte meiner Nachbarin helfen. Sie sollten dieser Frau jetzt einen Termin verschaffen. Wenn sie noch mal drei Wochen warten muss, ist der Arm steif.«
Der Arzt sah ihn streng an. Das konnte er gut, das hatte er bei seinem Prof gelernt. Er sagte: »Ich habe keine Zeit zum Telefonieren.« Herr D. stand auf. »Erst erzählen Sie mir fünf Minuten von Frankfurt und dann erklären Sie mir zehn Minuten lang die Welt. Aber für Ihre Patientin haben Sie keine Zeit!« Er nahm die Nachbarin am Arm. Sie schrie kurz auf, und dann waren sie draußen. •

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