Kreuzberger Chronik
November 2008 - Ausgabe 102

Kreuzberger
Die Zeitungsverkäuferin

Das Leben ist so


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von Sarah Theurer

Titelfoto: Dieter Peters

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Man kennt sie aus alten Filmen: Die Zeitungsverkäufer, die früh morgens an belebten Straßen stehen und mit lauter Stimme ihre druckfrischen Blätter anpreisen. Die Frau an der Admiralbrücke ist eine der letzten aus der Branche, eine lebendige Erinnerung an vergangene Zeiten.


Sie hat es nicht leicht zwischen den vielen, mit bunten Magazinen und Tageszeitungen dekorierten Presseshops. Aber sie gibt nicht auf, Tag für Tag ist sie da, im Sommer vor dem Prinzenbad, und im Winter auf der Admiralbrücke. Sie grüßt mit krächzender Stimme, ballt die knochige Hand zur Faust und wünscht mit entschlossenem Blick »Gesundheit!« und »einen schönen Tag«. Die Vorübergehenden grüßen, man kennt sich vom Sehen, und manchmal kauft man eine Zeitung bei ihr. Emma wartet. Sie wartet in stiller Rebellion gegen die Resignation. Sie schlägt die Zeit tot. Denn leben kann sie von den Zeitungen eigentlich nicht: die 85 Cent für die ersten 15 verkauften exemplare eines Tagesspiegel darf sie zwar für sich behalten, und an einer zitty verdient sie immerhin einen halben Euro. Bei der beliebten BiLD Zeitung aber sind es gerade mal 10 Cent. Dass am Tag mehr als zehn Euro zusammenkommen, sei eine Ausnahme, sagt die Frau mit dem Kopftuch.

Dennoch sitzt sie im Sommer von sieben Uhr morgens bis mittags um halb zwei im Schatten neben dem Eingang zum Prinzenbad. Und im Winter auf der Sonnenseite der Admiralbrücke. Falls die Sonne scheint. Um halb zwei kommt »der Chef« und holt sie mit ihren Zeitungen wieder ab. »Das Leben ist so«, sagt die Frau und winkt ab. »Aber irgendwie muss es gehen«. Sie nimmt ihr Strickzeug auf und sinkt wieder ein bisschen in sich zusammen.

Im März 1941, kurz vor Hitlers Invasion in Russland, kam die Zeitungsverkäuferin in Wolgograd auf die Welt. Zur Heimat ist der Ort nie geworden, denn schon bald wurde die deutschsprachige Familie unter dem Vorwurf, mit der Wehrmacht zu kooperieren, umgesiedelt. »Genommen haben sie uns und nach Sibirien geschmissen. So….« – und eine energische Handbewegung deutet an, wie die Russen die Wolgadeutschen behandelt haben – »weggeschmissen, einfach so. Aber gut, aber so ist das«. Sie war noch ein kleines Kind, als sie in das sibirische »Arbeitslager« kam, und sie blieb bis zu ihrem 17. Lebensjahr. Sie muss einmal eine schöne Frau gewesen, ihre Hände sind feingliedrig, das Gesicht ist streng, aber klar. Doch das Klima im Lager war rau, und die Geschichten waren keine Geschichten für kleine Kinder. »So ist das Leben eben.«

Nach dem Ende des Krieges packte ihre kranke Mutter »Kind und Kegel« zusammen und wanderte »bloß weg vom Russen«, bis nach Kasachstan. Dort lebten sie bis zum Fall der Mauer und der Sowjetunion, und plötzlich wollte man auch in Kasachstan von den Deutschrussen und den Flüchtlingen nichts mehr wissen. »Für solche wie dich haben wir keine Arbeit, geh wieder nach Haus zum russen« hatte man ihnen zugerufen. Also wanderten sie weiter. Aber zurück nach Russland wollten sie nicht. Damals nicht, und heute nicht. Das sagt sie immer wieder.

Foto: Dieter Peters
Während die Zeitungsverkäuferin erzählt, zerreißt sie mit den Zähnen den himmelblauen Wollfaden, um die wollenen Kinderschuhe mit einem blauen Rand zu schmücken. Der hoffnungsvoll himmelblaue Faden ist feucht vom Regen und ringelt sich um die Nadel, obwohl sie die Fäden der wieder aufgetrennten Schühchen immer wieder glatt streicht und sorgsam aufwickelt. Da ist keine Hoffnung mehr auf irgendwas, das Leben hat es nicht gut mit ihr gemeint, aber so ist das eben. Sie nimmt, was kommt, »auch wenn nur Scheiße kommt«.

Ihre Geschwister haben sich in alle Winde zerstreut, schon damals, als sie in Russland eine Familie gründete, als Krankenschwester arbeitete und sich eine neue Heimat zusammenbaute. Als sie in Kasachstan ihre Eltern begrub, stand sie fast alleine am Grab. Sie ist 57 Jahre alt, als sie erfährt, dass es ihrer Schwester nicht gut geht. Sie war bis nach Deutschland gekommen, aber nun hatte sie Krebs.

Also macht sie sich abermals auf den Weg, nach Berlin, zu ihrer Schwester. Sie möchte einen deutschen Pass beantragen, eine Wohnung suchen und dann die Kinder nachholen. Für viele Wolgadeutsche war Deutschland das ende einer langen Heimatsuche, doch die »Heimkehr« ins Aufnahmelager Marienfelde war für emma keine Heimkehr. es war alles ganz anders, als sie gedacht hatte, auch die Schwester war bereits gestorben. Wieder einmal hatte die Geschichte sie gepackt und irgendwo »hingeschmissen«. irgendwohin, wo es nichts für sie gab.

Doch die Leute sagten, sie habe Glück, sie dürfe bleiben. Ihre Kinder dagegen haben kein Glück. Sie dürfen nicht nachkommen. Das Sozialamt stellt ihr eine winzige Wohnung und eine noch winzigere Rente zur Verfügung. »Es muss gehen«, sagt die Zeitungsverkäuferin. Sie wiederholt diesen Satz immer wieder, als gäbe er ihr diese geheime Kraft, die man von Zeit zu Zeit aus ihren kühlen blauen Augen blitzen sieht.

Lange findet sie sich nicht zurecht. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt begegnet sie Menschen, die beinahe so etwas wie Freunde werden. Und eines Tages dann sieht sie dieses Mädchen, das auf der Straße Zeitungen verkauft. Am nächsten Tag – es ist ein Sonntag –, pünktlich um 6 Uhr früh, steht Emma am Halleschen Tor, um »den Zeitungsmann« zu treffen. Ihr zukünftiger Chef stellt keine Fragen. Für 10 Euro bekommt sie eine viel zu große Jacke mit einem Tagesspiegellogo und ein PVc-beschichtetes Drahtgestell als Zeitungsständer. Dann fährt der Mann sie irgendwo hin, stellt sie ab und drückt ihr die Zeitungen in die Hand. Wieder einmal hat man sie irgendwohin gebracht. Und wieder einmal ist der Platz kein guter Platz. Jeden Tag setzt der Mann sie woanders ab, aber niemand scheint sich für ihre Zeitungen zu interessieren. Sie verkauft kaum etwas. Ein Jahr vergeht, bis sie den Platz am Prinzenbad findet. Und dann den Platz auf der Brücke.

Doch die Zeitungsverkäuferin muss kämpfen um diesen Platz. Der Kioskbesitzer von gegenüber hat versucht, sie zu »vertreiben« und »zur U-Bahn gezerrt«. Am Ende wechselte sie die Straßenseite. Doch dann kam ihr Chef und fragte, warum sie die Straßenseite gewechselt hätte, und stellte sie wieder dort hin, wo er sie zuvor abgesetzt hatte. Kaum war er weg, kam der Mann vom Kiosk abermals und buxierte sie in Richtung U-Bahn. »Du rührst dich nicht vom Fleck«, schärfte er ihr ein. »Dann rief er die Polizei. Mitgenommen haben sie mich, wie ein Stück Vieh behandelt, und ich hatte doch nichts getan«. Die Zeitungsverkäuferin war enttäuscht, dass ihr niemand glauben wollte. Die Leute nahmen sie nicht ernst, nicht einmal die Polizisten haben ihr zugehört. »Und meinen Chef, den haben sie auch nicht angerufen.«

Ihr chef, das ist der Zeitungslieferant, von dem sie nicht mehr als eine Visitenkarte aus Pappe zeigen kann. »Es ist leicht, mich als eine verrückte Alte zu bezeichnen. Ich kann mich ja nicht wehren!« Sie räuspert sich und rückt ihr Kopftuch zurecht, sie ist nervös, erregt, empört. Dann, nach einer kleinen Pause, hebt sie die Schultern und sagt wie zur Entschuldigung, sie könne schließlich nur erzählen, was sie gehört und gesehen habe. Und so sei es eben gewesen, ob man ihre Geschichte nun glaube oder nicht.

»Wenn die Leute jemanden nicht verstehen, dann sagen sie: Der ist verrückt. Aber damit habe ich nichts zu tun, weil ich normal bin«. Dabei, so sagt die Zeitungsverkäuferin, hätte sie im Gegensatz zu diesen Verrückten sogar einen echten Grund, verrückt zu werden. »Verrückt sein, das ist eine Schwäche, die sich viel zu viele Menschen leisten«, meint die Zeitungsverkäuferin und schiebt die Zeitungen Kante auf Kante.

Doch nicht alle seien so unfreundlich wie die Polizei. Ihre Kunden seien oft nett zu ihr, einige seien echte Stammkunden. Und irgendjemand hat ihr dann tatsächlich geholfen. Nicht die Polizei und nicht der Fahrer des Tagesspiegel, sondern ein Zeitungskäufer hat ihr erklärt, dass sie ein Gewerbe anmelden müsse, um ihre Ruhe zu haben. »Jetzt kann mir keiner mehr was, nicht die Polizei und auch sonst keiner«.

Ob sich die Investition von 10 Euro für die Zeitungsverkäuferin gelohnt hat, daran zweifelt sie. Aber das ist ihr auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie endlich einen eigenen Platz hat. Einen Platz, von dem man die ewig Vertriebene so schnell nicht wieder vertreiben kann. Die Zeitungsverkäuferin hebt die Schultern und lächelt. Sie sagt, ihr Plätzchen und die Zeitungen, das sei vielleicht nichts, auf das man besonders stolz sein könne. Aber sie nimmt das Leben, wie es kommt. Mit erhobener Faust und einem stillen Lächeln. Sie weiß ja, dass es gehen muss. •


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