Kreuzberger Chronik
Mai 2008 - Ausgabe 97

Herr D.

Herr D. auf dem Flughafen


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von Hans W. Korfmann

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Im Jahr 2007 hatte Herr D. gleich zweimal den Bäcker gewechselt. Weil auch gleich zweimal die türkischen Eigentümer gewechselt hatten. Bei diesen innertürkischen Geschäften war allerdings der Preis für die Schrippen von 20 auf 30 Cent gestiegen, so daß der Herr D. noch ein drittes Mal zu einem Bäcker wechselte, bei dem die Brötchen nur noch 13 Cent kosteten. Dort aber waren die Brötchen meist gerade ausverkauft. Als er im Wartezimmer des Bäckers im Stern blätterte, stieß er auf den Satz »Ganztagsschule ist die Lösung!« Herr D. schaute durch die verregnete Scheibe auf die graue Straße und dachte an den vergangenen Urlaub.

Die Sonne hatte geschienen, bis der Flieger wieder auf regennasser Rollbahn aufsetzte. Die Kinder vor ihm störte das schlechte Wetter nicht. Sie hatten im Flugzeug alle zum Lachen gebracht. Auch die Eltern machten noch einen erholten Eindruck, als zwei Beamte auf sie zutraten und die Papiere verlangten. Die Kinder fragten: »Wollen Sie uns ins Gefängnis stecken?« – »Nein, so schlimm ist es nicht«, lächelte der Polizist. »Aber ihr geht doch sicher zur Schule?« – »Ich bin schon in der Dritten«, seufzte der Junge und verdrehte die Augen. »Und? Weißt du, wann die Schule begonnen hat?«, fragte der Polizist. »Am Montag. Aber da waren wir noch im Urlaub!«

<IMG width="1" height="1" src="Bilder/08_05_img_18.jpg" >«Können wir bitte unsere Papiere wiederhaben?«, fragte der Vater. Der Polizist schüttelte den Kopf. »Ich muß erst noch die Personalien aufnehmen.« – »Wozu denn das?« – »Verstoß gegen die gesetzliche Schulpflicht!« Da begann die Frau zu schimpfen. Herr D. verstand nur Worte wie »Freiheitsberaubung«, »gemeinsame Sache mit den Reiseveranstaltern«, »Pisastudie …« Er trat näher. Jede Talkshow war ein Kinderprogramm gegen diese Livediskussion.

»Sie plädieren für weniger Schule und mehr Urlaub?«, fragte der Beamte. »Ich bin gegen Massenerziehungsanstalten und Ganztagsschulen. Schulen können die Eltern nicht ersetzen. Aber bei den Eltern sind die Kinder ja kaum noch. Die Kinder gehen morgens um 7 aus dem Haus und kommen um 16 Uhr zurück. Bleibt noch das Wochenende …« – »Und die Ferien!«, grinste der Beamte. »Genau. Und wenn man dann verreisen will, steigen zwei Tage vor Ferienbeginn die Preise exorbitant. Da sollte der Gesetzgeber mal was unternehmen. Auch finanzschwache Familien haben ein Recht auf Erholung.« – »Sie können doch Sonderurlaub beantragen?« – »Hab ich. Abgelehnt. Und dann kriegen Sie von der Direktorin zu hören, daß ›Schule wichtig‹ sei, und ›wenn das jeder machen würde!‹ Soll ich Ihnen sagen, was wäre, wenn das jeder machen würde? Dann hätten wir nicht so viele durchgeknallte Jugendliche auf den Schulhöfen, die mit Pistolen und Messern rumlaufen und sich und andere ins Unglück stürzen.« – »Also: Mehr Urlaub für jugendliche Straftäter, oder was?«, sagte der Polizist. In diesem Moment wollte die Frau zuschlagen. Ihr Mann hielt sie zurück.

Insgesamt, so las der Herr D. später in einer Zeitung, waren 100 Urlauber angezeigt worden. Die Schulämter hätten die Namen der Eltern »dankbar« angenommen, und die Polizei rechtfertigte die Aktion mit der »schlechten Vorbildfunktion« der Eltern. Gedankenverloren sah Herr D. durch die verregnete Scheibe, erinnerte sich an die eigene Schulzeit mit Eckenstehen und Nachsitzen und fragte sich, ob es wirklich das Jahr 2008 war, das nun angebrochen war.


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