Kreuzberger Chronik
März 2008 - Ausgabe 95

Die Literatur

Immer wenn ich Satchmo höre


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von Gerd Borchert

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Von nun an lebten wir in der Görlitzer Straße 56 b in SO 36. Immerhin hatten wir ein kleines Zimmer bekommen und konnten allmählich zum Alltag zurückkehren. Aber solange wir nur zur Untermiete wohnten, wollte sich die richtige Behaglichkeit nicht einstellen. Die Hauswartstelle war zwar in Aussicht und damit auch eine Wohnung, aber der Mietvertrag war noch nicht unterschrieben.

Bei Schaffts waren wir nur besuchsweise angemeldet. Höchstens ein Vierteljahr durften wir hier bleiben. Die Alternative wäre der berüchtigte Fichtebunker gewesen, wo Flüchtlinge unterkamen. Dieser Bunker an der Fichtestraße in Kreuzberg war ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. Er war 1874–1876 als Gasometer erbaut worden, 21 Meter hoch und umfasste etwa 7.800 Quadratmeter Nutzfläche. 1941 erfolgte der Umbau zum Luftschutzbunker. Nach Kriegsende diente der Fichtebunker als Obdachlosenasyl und Flüchtlingslager. Einige Zeit war er sogar Altenheim. Nach der Berlin-Blockade richtete der Berliner Senat dort ein zusätzliches Lebensmittellager ein, das erst nach der Wende 1990 aufgelöst wurde. Seither steht das denkmalgeschützte Gebäude leer.

Als wir nach Berlin zogen, wurde der Bunker als Obdachlosenasyl genutzt. Es gab dort keine abgeteilten Zimmer oder Wohnungen, sondern nur die Bunkerzellen, in denen sich die Menschen einrichten konnten. Keine Wände, keine Türen, keine Fenster, als Sichtschutz dienten große Tücher oder Decken. Es gab keinerlei geschützten Bereich, niemand konnte seine Persönlichkeitssphäre wahren. Auch die sanitären Anlagen befanden sich in einem grauenvollen Zustand. Viele, die im Fichtebunker untergekommen waren, haben den Absprung von dort nicht mehr geschafft und wurden zu dauerhaften Sozialhilfeempfängern. Davor wollten unsere Eltern uns schützen. Hauptsache, wir hatten vorläufig eine Bleibe.

Aber die Gegend hier war trostlos. Hohe Häuser, nur wenig Plätze mit Rasenflächen oder Bäumen. Es gab zwar ein paar Geschäfte, aber keine Spielplätze. Auf den Hinterhöfen spielte sich das Leben ab. Dort hatten sich viele Gewerbetreibende niedergelassen: Handwerker, diverse Kohlen-und Schrotthändler. Die kleinen Geschäfte sahen zwar von außen ziemlich verramscht und ärmlich aus, aber dort gab es allerlei zu kaufen. Viele bunte Süßigkeiten und leckere Brause, wie man die Berliner Limonade nannte. Das meiste konnten wir uns nicht leisten. Mama war immer darauf bedacht, uns erstmal mit dem wichtigsten zu ernähren. Dazu gehörten Butter, Wurst und Fleisch. Das hatten wir immer auf dem Tisch. Auch unsere Bananen bekamen wir täglich. Die neuen Leckereien blieben vorläufig tabu.

Ab und zu kam ein alter Mann mit einem Handkarren vorgefahren und brüllte auf die Straße und in die Hinterhöfe: »Brennholz für Kartoffelschalen!!!« Dann rannten wir Kinder hinunter und tauschten unsere gesammelten Kartoffelschalen gegen Brennholz. Vermutlich dienten die Kartoffelschalen als Futter für Nutztiere, zum Beispiel für Schweine, die damals im Berliner Stadtgebiet noch gehalten wurden. Meistens bekamen wir für unsere Kartoffelschalen Anmachholz, mit dem der Inhalt des Kachelofens entfacht wurde.

Schaffts hatten einen kleinen Jungen, etwa zwei Jahre alt. Klaus und ich spielten mit ihm, passten auf ihn auf und kümmerten uns oft um ihn. Er war immer hungrig, vielleicht erhielt er nicht genug zu essen, jedenfalls kam er immer zu uns und pochte gegen unsere Tür. Er konnte noch nicht sprechen, und wenn meine Mutter die Tür öffnete, stand er davor, schmatzte und machte Kaubewegungen, so dass sie gleich wusste, was der Kleine wollte. Meine Mutter hat ihn ganz selbstverständlich mit versorgt, und wir haben dem Kleinen gern etwas abgegeben.

Entnommen aus Gerd Borchert, Immer wenn ich Satchmo höre, Mystory Verlag, ISBN 10: 3-938399-15-5, Preis 17 Euro, www.mystoryverlag.de

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