Kreuzberger Chronik
Juli 2008 - Ausgabe 99

Geschichten & Geschichte

Seide aus Berlin


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von Werner von Westhafen

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Die unwahrscheinliche Geschichte eines Maulbeerbaumes




Die Sehnsucht nach der Ferne ließ die Menschen Bücher schreiben, Schiffe besteigen, Raumschiffe bauen und exotische Pflanzen in ihren Gärten kultivieren. Im 18. Jahrhundert begann man in den kälteren Regionen Orangerien und Wintergärten anzulegen. Inzwischen haben milde Winter und heiße sommer Zitronenbäumchen, Feigen und Cannabis Sativa längst auch auf Kreuzberger Balkonen heimisch gemacht.

Zu jener Zeit aber, als sich Leibniz, der erste Präsident der »Societät der Wissenschaften zu Berlin«, mit dem Anbau von Maulbeerbäumen in Berlin beschäftigte, war die Zucht exotischer Gewächse im rauen Berliner Klima noch ein Experiment mit unsicherem Ausgang. Das Experiment diente auch eher der Befriedigung des Fernwehs als der Eitelkeit des Königlichen Hofes: 16.000 Taler gab die Königliche Gold-und Silbermanufaktur jährlich allein für den Import von Seide aus. Die Seidenstickerei war auf ihrem Höhepunkt.

Also erging 1716 die Anweisung an alle Amtsleute, Magistrate und Geistlichen, auf Kirchhöfen, Plätzen und Schulhöfen Maulbeerbäume zu pflanzen und Seidenraupen zu züchten. Friedrich Wilhelm I. zeichnete persönlich den Plan zu Pflanzungen im Tiergarten, und schon sieben Jahre später besaß Berlin 2.000 Bäume, auf denen die fleißigen Raupen 115 Pfund seide im Jahr spannen. Um die Kosten des Imports weiter zu senken, verbot er den Dienstmädchen und anderen »gemeinen Weibleuten« das Tragen von Seide. 1753 gründete Friedrich II. das »Spinnerdorf« Friedrichshagen und ließ dort 1.200 Maulbeerbäume pflanzen. Auf dem Gut Tegel, im Garten der Charité und im Britzer Garten, überall knabberten die Seidenraupen am grünen Blattwerk der Maulbeerbäume, und im Jahre 1776 produzierten sie immerhin 6.000 Pfund Seide. Dem König aber war dies noch immer zu wenig, er forderte, dass »ein jeder Bauer sich damit beschäftige… « Diejenigen, die sich dem Vorschlag widersetzten, beschimpfte er als »faule Esels«.

Inzwischen sind die Maulbeerbäume längst wieder aus dem Stadtbild verschwunden. Einer von ihnen aber steht noch heute in der Friedrichstraße. Es war im Jahre 1687, als die Kurfürstin Dorothea französischen Einwanderern ein Stück Viehweide schenkte, die dort ein Hospital, ein Waisenhaus und einen Friedhof errichteten. Zwischen den Gebäuden sollen prächtige Parkanlagen mit großen Maulbeerbäumen gelegen haben. Betritt man heute den Hof der Friedrichstraße Nummer 129, dann steht dort ein uralter, dickstämmiger, aber von eisernen Krücken gestützter Maulbeerbaum. Es heißt, er sei der älteste Maulbeerbaum Berlins, habe alle Kriege, alle Brände, die eisigen Winter überstanden und stamme noch aus jenen Tagen, als die Berliner dazu aufgefordert wurden, auf jedem freien Platz zwischen ihren Gebäuden mit der seidenraupenzucht zu beginnen. Dann wäre der Baum an der Friedrichstraße bereits 300 Jahre alt. •


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