Kreuzberger Chronik
Juni 2007 - Ausgabe 88

Der Mensch
Ben Pavlidis

Musik, das war die Lücke im System


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Nikolaos Topp

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Sein Vater hatte einmal ein Kafenion. Einer, der dort hinter dem Tresen arbeitete, war Scotty. Noch heute treibt sich der selbsternannte »letzte Hippie« von Kreta bei den Höhlen von Matala herum und verkauft seine Memoiren. Darin steht, wie er mit Janis Joplin am Strand Musik gemacht hat, mit Keith Richards und all den andern Stars der wilden Sechziger Wein getrunken hat.

Aber das alles ist lange her und eine ganz andere Geschichte und hat nichts damit zu tun, daß Benjamin Pavlidis heute als Musiker sein Brot verdient. Wenn aus dem Sprößling von Theodoris Pavlidis ein Sänger wurde, den sogar die gerontophile ZEIT in ihren Artikeln über die Ohrbooten loben, lag das eher an den schlechten Schulleistungen, die ihm der Deutschlehrer attestierte. Denn sonst hätte er sich womöglich nie auf die Straße gestellt, um Musik zu machen. Er hätte womöglich studiert und sich ein Leben lang die Frage stellen müssen: »Wieso geb ich mir, das Leben in nem Gehege hier?«

Gott sei Dank aber ließ man Ben erst einmal sitzen. Anschließend wollte man den Legastheniker in die Sonderschule stecken, und Bens Schicksal hätte an dieser Stelle endgültig besiegelt werden können. Doch Ben geht nicht unter, Ben ist »ein Stadtkind, das durch die Stadt schwimmt«. Ben schlängelte sich bis zur 10. Klasse durch, täglich durch die unterirdischen Kanäle, mit der U-Bahn von Kreuzberg zur Schule in den Wedding. Und um der Langeweile in den U-Bahnschächten zu entgehen, hängte er sich mit seinen Freunden »schweinebaumelnd« mit den Knien an den Haltestangen auf. »Die Ossis haben ganz schön blöd geguckt, wenn wir dann in den Bahnhof einrollten und kopfüber in den Fenstern hingen.«

Einige dieser U-Bahn-Anekdoten griff Dr. Jörg Scheibe von der Theater-AG an der Ernst Reuter Schule später wieder auf und inszenierte mit seinen Schülern eine Art »Linie 2« inszenierte. »Scheibe war ein begnadeter Lehrer, der kam dann sogar zu unsern ersten Konzerten«, und die junge Theatergruppe mit Ben und den anderen Querköpfen hatte Erfolg. Sie wurde zu einem deutschlandweit ausgeschriebenen Theaterfestival eingeladen und blieb auch nach den Schulabschlüssen noch zusammen, um ein Stück mit dem Titel »Mad Professor« zu inszenieren. Das waren Bens erste Auftritte, zwei Jahre später stand er dann mit Matze auf der Straße und spielte Gitarre. Zog durch die Kreuzberger Kneipen, »Atlantik, Locus, Casolare«. Spielte »The girl from Ipanema«, wenn die Leute gerade am Essen waren, oder »Mass of Attack«, wenn sie schon beim Trinken waren. »Es war einfach geil, wir hatten Spaß und einen besseren Stundenlohn als bei irgendeinem andern Job. Straßenmusik, das war die Lücke im System, und nebenbei behielten wir immer die Bodenhaftung«. Hin und wieder kam schon damals einer von diesen duseligen Altachtundsechzigern und legte ihnen väterlich den Arm auf die Schultern: »Aus Euch wird noch mal was!« Selbst in den finsteren Eckkneipen bestellten die Stammgäste am Ende »noch ’n Jägermeister für die Zwei!« – Nach drei Jahren Kneipentouren buchte man das Gitarrenduo dann erstmals für eine Hochzeit.

Und in Australien lief es noch besser. Da kamen wirklich alle und sagten: »Hey, super, mach weiter!«, und warfen was in die Mütze. Hier ist Straßenmusik immer noch so etwas ähnliches wie Betteln. »Wenn du hier auf der Straße spielst, hörst du ständig solche Sprüche wie: »Geh erst ma üben!« Auch jetzt, wo die Ohrbooten von ihrer ersten Scheibe

10.000 Exemplare verkauft und einen »Plattenvertrag« in der Tasche haben, wo sie ihre neuen CDs »im supermodernen Studio« der Toten Hosen aufnehmen, ernten sie nur skeptische Blicke, wenn sie auf dem »Boxi« die Lautsprecher aufbauen. Das ist was anderes, als auf die Bühne zu kommen, wo alle nur darauf warten. »Die Bühne, das ist ne Show, das ist perfektes Theater! Auf dem Boxhagener Platz aber laufen erst mal alle weiter, da mußt du jedes mal wieder von vorn anfangen!« Das reizt. Das turnt. Mehr, als wenn man vor 3.000 Leuten einen Takt anschlägt und plötzlich klatschen alle mit, weil sie das schon hundertmal gehört haben.

Deshalb spielen die Ohrbooten noch immer auf der Straße und bauen schnell noch das verlorene Kind, das gerade seine Eltern sucht, in ihren Freestyle ein. Freestyle, das ist diese Mischung aus Rhythmus und Wortimprovisation. Ben sagt, er sei kein Freestylerapper. Ein richtiger Rapper sei was anderes, aber er bringe das für die Leute rüber. Vielleicht, weil er auch für jene, die bislang nur die Stones gehört haben und die schnelle Sprache des Rap nicht verstehen, das Tempo um ein Drittel reduziert. »Ich will ja die Leute berühren«, sagt Pavlidis. Er will verstanden werden. Er ist der Botschafter einer Band, die sich Ohrbooten nennt. Was nach U-Bahn, nach U-Boot und nach Ohrwurm klingt, aber auch ein bißchen nach Nachrichtenboten.

Im Wedding Foto: Privat
Die Nachrichten der Ohrbooten sind voller Wortspiele und Anspielungen, voller Andeutungen und Assoziationen. Nur wenig ist zufällig, auch die unangekündigten Auftritte am »Boxi« oder am Heinrichplatz sind kein Zufall: Ein Drittel der 10.000 Scheiben mit dem Titel »Spieltrieb« haben sie auf der Straße verkauft! »Heute macht man CDs, um Konzerte zu verkaufen. Früher war es umgekehrt!« Pavlidis wippt auf einem Gymnastikball, damit das Baby auf seinem Arm endlich einschläft. Er erzählt langsam, ohne Aufregung. Er hat ihn behalten, den Bodenkontakt. »Ick hab keen Sofa und keen Kanapee, und ich koof ma ooch nüscht im KADEWE, hab keen Flokati, ick hab PVC, ich zahl nur die Miete und die BVG«.

Pavlidis ist nicht umsonst im Wedding zur Schule gegangen, hat jahrelang von seinem Spielzimmer aus über die Mauer geblickt, hat auf dem Gleisdreieck in den Autowracks gesessen, bei denen nur noch der Zigarettenanzünder funktionierte – »das wichtigste, wenn wieder mal keiner Feuer hatte«. Und auf den verrosteten Blechen haben sie Sprayen geübt. »Berlin war ein Abenteuerspielplatz! Die stillgelegten Gleise überall. Die leeren Bahnhöfe im Osten. Das alles war voller Poesie.« Pavlidis, seine kleine, mit großen Augen in die Welt blickende Tochter im Arm, spricht, als wäre das alles schon weit entfernt. Dabei ist er gerade dreißig geworden.

Auch wenn nach einem Konzert ein aufgeregter Fan auf ihn zurennt und zu stottern beginnt, spricht er wie ein Alter: »Jetzt komm mal rüber, setz dich! Beruhig dich! Trink was! Wir machen doch nur Musik!« Das ist echte Weddinger Bodenhaftung. Das ist Kreuzberger Coolness. Manchmal fügt er hinzu: »Man sollte das alles nicht zu ernst nehmen…« Auch die Journalisten überrascht er, wenn sie ihn nach der Zukunft fragen und er dann sagt, daß er gerade einen Vertrag für 4 Scheiben unterschrieben hat. Und daß es danach vielleicht Zeit ist, wieder mal »was ganz anderes zu tun«. Reisen vielleicht. Lia, seine Freundin, die er noch aus der Schule kennt, ist Bauchtänzerin, und der Orient, Asien, Indien,
da hat es ihn ohnehin schon immer hingezogen. Da war er schon einmal, und als er 2001 wieder in Berlin einflog, war klar, daß er bald wieder los wollte. Er wartete nur darauf, daß ihn die Musikschule im Künstlerhaus Bethanien ablehnte, »und dann tschüss, wann ich wiederkomm ist ungewiß, sicher ist, daß ich mich hier verpiss, dahin, wo det Wetter besser iss, Sonnenschein ohne Kompromiss«.

Doch im Bethanien nahmen sie ihn. Und da lernte er dann noch ein bißchen Theorie zur Praxis, die er längst beherrschte. Wurde »vollgepumpt mit Aufgaben, Gesang, Klavier, Gehörbildung. Das hat zur Folge, daß ich jetzt mitreden kann, wenn die Leute über Synkopen, Triolen und den Tritonus quatschen.« Eigentlich aber hatte er wieder auf Reisen gehen wollen. Und deshalb war das gar keine so leichte Entscheidung: »Vier Scheiben, das sind acht Jahre. Ganz schön hart für einen freiheitsliebenden Straßenmusiker!«, sagte Ben, als er mit den »Booten« den Vertrag bei den Hosen unterschrieb. »Aber wir waren die erste Band, die sich bei denen ins gemachte Nest setzen durfte«.

Ben weiß das zu schätzen. Und überhaupt: »Es ist einfach supergeil, wenn man mit dem, was man gern macht, auch noch Geld verdienen kann!« Und getextet hat Benni schon immer gern, egal, was der Studienrat davon hielt. Er schrieb Gedichte, Tagebücher, kurze Texte – ohne dabei an Musik zu denken. Aber der Rhythmus war schon da. Und noch heute ist es manchmal so, daß er durch die Straße läuft, und plötzlich ist da ein Rhythmus, und dann finden sich die Worte dazu ein, ganz von allein, wie beim Freestyle, das kann blitzschnell gehen, und dann ist da ein rhythmisch starker Text, fast schon Perkussion. »Und dann geh ich mit meinen vier Akkorden und meiner Idee zu den andern und sage: Hier is was! Helft mir!«

Sie sind kein schlechtes Team, »Matze«, »Onkel« und »Noodt«, wie sie sich alle seit ewigen Zeiten nennen, »die richtigen Namen kennt glaub ich nur noch die GEMA!« Sie sind keine grünen Jungs mehr, längst häufen sich »die Schwangerschaftsnachrichten im engsten Freundeskreis«, Kinderklamotten gehen rum. Und wenn sie auf Tour gehen, sind am Ende alle froh, wieder in Berlin zu sein. Im trauten Heim. So, als machten sie diesen Job schon seit vielen Jahren. So, als hätte es nie eine Alternative, nie einen Ausweg aus diesem Musikgeschäft gegeben.

Und daß Ben als Frontmann endete, hätte niemand voraussehen können! »Das ist echt nicht meins. Ich hab immer als Basser in der Ecke gestanden, weil nix anderes frei war. So wie alle Basser eben. Die Basser sind immer nur die schlechten Gitarristen.« Sie probten bei Dennis, der im Heim lebte und auch nicht besonders gut in Deutsch war. Das Heim war mies, aber es gab einen Proberaum im Keller. »Jetzt hat Dennis das Abi nachgemacht und studiert Physik! Krass!« Dennis, das ist auch so einer aus dem Wedding, der sich durchgeschlagen hat! Und Niko, der irgendwo in den Bergen auf Kreta geboren ist, und dessen Vater auch so ein durchgeknallter Aussteiger war. Dieser Niko saß dann eines Tages neben Benni auf der Schulbank. Niko Topp, der immerhin noch das Abi absolvierte, um dann nichts anderes mit dem Papier zu machen, als ein halbes Jahr lang um die Welt zu reisen. Und der heute auch in so einer witzigen Band voller prickelnder Ideen spielt, die sich Netausgang nennt, weil auch für sie die Musik so etwas wie ein Notausgang ist, »die Lücke im System«.

Bis jetzt aber gelang die Flucht durch den Notausgang nur mit dem »Ohrschiff«. Hans W. Korfmann


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