Kreuzberger Chronik
Februar 2007 - Ausgabe 84

Herr D.

Herr D. und Herr Dutschke


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. war einer dieser seltsamen Menschen, die noch immer erwartungsfroh zum Briefkasten gingen. Auch wenn die Welt heute Emails schickte, an den Feiertagen am liebsten textidentische Rundbriefe an sämtliche Freunde und Bekannte. Ebenso wie der Zahnarzt oder der Ottoversand. Herr D. fand das komisch.

Herr D. also liebte seinen Briefkasten, den einzigen im ganzen Haus, dem die fettgedruckte Warnung fehlte, die das Leben der Studenten und anderer Werbezettelausträger und potentieller Hartz IVEmpfänger noch schwerer machte: KEINE WERBUNG! Herr D. hatte einen anderen Text auf seinem Kasten: BITTE KEINE WAHLBENACHRICHTIGUNGEN!

Dennoch lag eines Morgens schon wieder ein Schreiben des Bezirksamtes in seinem Briefkasten. Herr D. überlegte, ob er es gleich mit der Werbung entsorgen oder doch lesen sollte. Mit einem letzten Rest Neugierde öffnete er das Schreiben. Es handelte von einem bevorstehenden Bürgerentscheid!

Bürgerentscheide waren dem Herrn D. sympathisch. Spätestens seit Zwentendorf. Das österreichische Atomkraftwerk war schon betriebsfertig, man brauchte nur noch einzuschalten, und dann kam die Volksabstimmung. Nicht ein Kilowatt hat das Milliardenprojekt produziert und ist heute ein Museum! Das war zwar noch in der KreiskyÄra und mit SchröderMerkelZeiten nicht zu vergleichen, aber es bewies, daß es noch möglich war, daß das Volk entschied. Alle paar Jahrzehnte einmal. Aber immerhin! Verdächtig an dieser Abstimmung jedoch war, daß der Antrag zur Bürgerbefragung eine Initiative der CDU war!

Herr D. staunte, aber dann las er den Namen Rudi Dutschke. Da war klar: Diese miese kleine konservative Partei versuchte tatsächlich, die im Oktober 2005 beschlossene Umbenennung der Kochstraße und die Ehrung des politischen Feindes Rudi Dutschke wieder rückgängig zu machen! Mit Erstaunen über so viel ideologische Nostalgie las Herr D., wie die CDU mit Kosten in schwindelerregender Höhe von insgesamt 180 Euro für das Auswechseln der 12 Straßenschilder argumentierte, die den Steuerzahlern erspart bleiben würden, da die neuen Schilder noch nicht standen. Wie sie das Interesse von »fast 1.000 Anwohnern« anführte, die »auf eigene Kosten« die Adresse in ihrem Ausweis ändern müßten, und von »fast 700« Unternehmern, die »viel Geld in neue Visitenkarten, Briefpapier, Werbegeschenke investieren« müßten. Die Kochstraße sei »nach dem ehrenwerten Bäckermeister Johann Koch benannt«, einem »Vizebürgermeister« der Stadt. »Warum sollen wir so mit Vorbildern umgehen, die soviel für Berlin getan haben.«

Herr D. erinnerte sich, gelesen zu haben, daß der Bäckermeister den Titel des Vizebürgermeisters erst bekam, nachdem er einige Wiesen und Ställe für den Bau der Kochstraße opferte  wofür sich der König wiederum mit Filetgrundstückchen an der damals bereits renommierten Friedrichstraße und an der neuen Kochstraße revanchierte. Und Herr D. erinnerte sich auch daran, wie Kurt Wansner von der CDU die Namensänderung als »Provokation für alle aufrechten Demokraten« bezeichnet hatte. Herr D. erinnerte sich auch daran, wie viele Straßen und Plätze dieser Helmut Kohl nach dem Fall der Mauer umbenannt hatte, ohne die geringste Rücksicht auf die Anwohner oder die entstehenden Kosten zu nehmen. Und Herr D. erinnerte sich daran, was solche Postsendungen kosteten,  auch, wenn der Absender das Bezirksamt war.

Herr D. hatte beschlossen, nie wieder wählen zu gehen. Aber dieses eine Mal ging er noch.


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