Kreuzberger Chronik
Dez. 2007/Jan. 2008 - Ausgabe 93

Der Mensch
Michael Thomas Röblitz




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von Hans W. Korfmann

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Michael Thomas Röblitz liebt die Bücher und den Tee. Und er hat Sinn für Wortspiele, weshalb er sein Geschäft in der Großbeerenstraße Tee-Lese am Kreuzberg nannte. Der Tee freilich, den Röblitz verkauft, wird im fernen Asien gelesen und nicht am Fuße des Kreuzbergs. Andererseits veranstaltet der Teehändler regelmäßig Lesungen. Hinzu kommt, daß sich in den hinteren Räumen keine Jutesäcke und Holzkistchen mit erlesenen Blattspitzen stapeln, sondern antiquarische Bücher, weshalb die Wortkreation aus »Tee« und »Lesen« durchaus ihre Berechtigung hat.

Diese Beobachtungen lassen darauf schließen, daß der Besitzer des kleinen Teeladens in der Großbeerenstraße zwei Leidenschaften zum Beruf gemacht hat: das Teetrinken und das Bücherlesen. Zu den Büchern kam er schon früh, denn er wuchs auf in einer Welt voller Buchstaben und Bilder. Schon der Großvater war Drucker, Vater und Mutter arbeiteten als Retuscheure, und immer wieder fiel am häuslichen Tisch der Name eines Arbeitskollegen seines Vaters: Hans Werner Klünner. Der Mann war von Beruf Setzer und hatte sich im Laufe der Zeit eine Privatbibliothek zusammengesammelt, die unter den Historikern stadtbekannt war. Da sich dieser Privatbibliothekar nicht damit begnügte, die Bücher nur zu sammeln, sondern sie auch las, begann er bald selbst zu schreiben, machte sich als Heimathistoriker einen Namen und gehörte später zu den Gründern der Fontanegesellschaft.

Foto: Privat
In der letzten Reihe – Michael Röblitz.

Dieser Arbeitskollege schwebte wie ein Geist über dem Eßtisch der Familie Röblitz, und auch, wenn der kleine Michael die legendäre Bibliothek nie betrat, übten verstaubte Regale doch schon damals eine starke Anziehung auf ihn aus, und während die Klassen- kameraden »ins Kino rannten«, ging er ins Indische Museum. »Indien, Segelschiffe, Berlin … das waren meine Themen.« Auch später, als die anderen Schallplatten der Stones auf die Plattenteller legten, hörte sich Michael im Radio Sendungen von Kurt Pomplun an. »Kutte kennt sich aus« war zwar eher etwas für Ältere, denn Kutte berichtete mit Berliner Schnauze von der Historie Berlins, doch der Michael war begeistert.

In der Schule saß der Vielgebildete dennoch nicht in der ersten Reihe. Im Gegenteil. Mit seiner Klassenlehrerin kam er nie klar, und als er in der Schülerzeitung einen Rachefeldzug plante und eine Umfrage zur unbeliebtesten Lehrerin der Schule startete, mischte sich sogar der Direktor ins Zeitgeschehen. Woraufhin Michael die Redaktion verließ und seine eigene Zeitung druckte. Mit der Chemielehrerin, die ständig verschlief und zu spät kam, verstanden sich die Schüler dagegen besser. »Da waren wir dann immer ganz leise, damit niemand merkte, daß sie fehlte und gerade der Unterricht ausfiel. Wir waren irgendwie Verbündete.« Die Klassenlehrerin jedoch hatte keine Chance, und als Michael Thomas Röblitz viele Jahre später beim Durchblättern einer Zeitung zufällig auf ihre Todesanzeige stieß, wurde ihm auch viele Jahre danach noch »richtig warm ums Herz!«

So früh Röblitz, der wie der alte Klünner inzwischen selbst zum Autor historischer Veröffentlichungen wurde, seinen Hang zur glanzvollen Welt der Bücher entdeckte, so finster blieb doch am Ende die Schule für ihn. Und wenn Röblitz an seine Kindheit denkt, dann erinnert er sich am liebsten an die Ferien. An jene vom Licht des Sommers durchfluteten Tage, an denen sie mit der S-Bahn zum Baden an den Wannsee fuhren. Es war nicht weit von der häuslichen Wohnung bis zum S-Bahnhof Tempelhof, der Wannsee lag sozusagen vor der Tür. Und während die Kinder vergangener Generationen von dampfenden Stahlrössern träumten, begann Michael von den rot-gelb-lackierten Zügen zu träumen, die sich ihre Wege durch die Schluchten zwischen den Häusern und durch die Schneisen der Wälder zu den Berliner Seen hinaus bahnten.

Kaum hatte der junge Mann die vorgeschriebenen Schuljahre hinter sich, erinnerte er sich dieser Fahrten mit der Wannsee-Bahn und erkundigte sich bei der S-Bahn nach Arbeit. Doch Fahrer wurden gerade keine gesucht, und da der schulüberdrüssige Michael »schon immer gerne Kuchen aß«, begann er in einer Großkonditorei »und lernte mit Backtriebmitteln umzugehen«. Auch dieses Lehrlingsdasein aber war desillusionierend genug, um den jungen Mann kurz vor der Prüfung sowohl die Lehre als auch den Wohnsitz bei den Eltern aufgeben zu lassen. »Aber Junge, du mußt doch deshalb nicht gleich ausziehen!«, sagten die Eltern. Aber Michael Thomas Röblitz war fest entschlossen.

Er wollte nach London. Also bewarb er sich bei Kaisers im Lager und hatte den Arbeitsvertrag schon in der Hand, als er dem Herrn vom Personalbüro mitteilte, daß er gerne einen Vorschuß hätte und in 14 Tagen Urlaub zu nehmen gedenke. »Einen Moment bitte noch!«, sagte der Personalchef, nahm dem zukünftigen Mitarbeiter das Blatt noch einmal aus der Hand und zerriß es in zwei saubere Hälften. »Bei Reichelt war ich dann ein bißchen vorsichtiger«, gekämmt und ordentlich gekleidet erschien er zum Einstellungsgespräch. Glücklich wurde er auch dort nicht. »400 unbezahlte Überstunden im Jahr, eine furchtbare Zeit!« Endlich fand er in einer Gasabfüllstation in Marienfelde einen halbwegs erträglichen Job. Dort war er der einzige Angestellte und hatte seine Ruhe.

Röblitz braucht diese Ruhe. »Ich bin ein betulicher Mensch!« Was ihm an der S-Bahn auch viele Jahre nach den Sommern der Kindheit noch gefiel, das waren diese ruhigen, sonnigen Bahnhöfe entlang der alten S-Bahngleise. Das war die langsame Technik, das waren die Blumenkästen auf den Bahnsteigen, die Holzdecken und die Bänke. »Und dann im Winter diese alten Röhrenheizungen und dieser unvergleichliche Geruch in den hölzernen Waggons! Wenn die Heizung auf 3 stand, verbrannte man sich den Arsch. Dabei waren es draußen minus 20 Grad!«

Und am 8. Januar 1984 bekommt Michael Thomas Röblitz tatsächlich seine Chance. Am 8. Januar 1984 wird der Betrieb der S-Bahn an den Westen übergeben. Und ein Großteil des Reichsbahn-Personals mußte sich neue Arbeit suchen. »So viele Tränen hab ich nie wieder gesehen!«, erinnert sich Röblitz. Dennoch bewirbt er sich als Zugführer bei der BVG und absolviert einen dreiwöchigen Lehrgang. Und wieder macht sich die ausgeprägte Abneigung gegen Schulbänke bemerkbar. »Die wollten mich nie wieder zu einer Prüfung zulassen, so schlecht war ich.« Immerhin boten sie ihm einen Posten als Bahnhofsaufsicht an. Ein Funkgerät über der Schulter, eine Sprechtüte in der Hand, steht Röblitz nun auf dem Bahnsteig, gibt den Zugführern das Signal zum Türenschließen, ruft: »Zurückbleiben bitte!«, sammelt Papierschnipsel auf. Einmal muß er eine ganze Nacht Schnee schaufeln, doch sonst war es eine »besinnliche Zeit an der Buckower Chaussee. Wir waren zu zweit,
Foto: Privat
für jedes Gleis einer, und alle 20 Minuten kam ein Zug. Da wußte man nie so genau, ob man Urlaub oder Arbeit hatte.«

Jahrelang sah er den Zügen nach, träumte davon, wie es wäre, wenn er jetzt im Führerhäuschen stünde und mit geöffneter Tür Richtung Wannsee führe, während die Sonne aufging und die Vögel zwitscherten … – Röblitz hatte einen Traum. Und als man zwei Jahre nach dem Fall der Mauer neue Fahrer für die wiedereröffneten Strecken brauchte, bekam Röblitz seine 2. Chance. Und er schaffte es. Einige Jahre stand er ganz vorne, die eine Hand am Bremshebel, die andere am »Totmannsknopf« – dem Fahrschalter, der ständig gedrückt werden mußte und die Bahn zum Stehen kommen ließ, wenn den Zugführer plötzlich die Kräfte verlassen sollten. Röblitz war glücklich, aber Ende der 90er wurde es allmählich ungemütlich. Die Arbeitsbedingungen wurden immer schlechter. Man konnte die Fenster nicht mehr öffnen. Nicht mehr anhalten, wenn man mal mußte. Weil es auf den Bahnhöfen keine Toiletten mehr gab. »Die Überstunden wurden auch nicht mehr ausbezahlt, und die Frühschichten wurden immer mehr. Es wurde täglich ein bißchen häßlicher.«

Röblitz zog die Notbremse. Lehnte sich zurück und widmete sich endlich ganz seiner zweiten Leidenschaft: Er trank Tee. Heute umgeben ihn 150 Sorten, untergebracht in roten, grünen und königsblauen Dosen. Dosen in einem Blau, so königlich wie die luxuriösen Wagen der 1. Klasse des Orientexpress’. In diesen Dosen sind die traditionellen Schwarzen aus Indien, Assam, Ceylon und Darjeeling. Indien, das liebte er ja schon immer. In den Grünen sind die unfermentierten, und in den roten sind jene zauberhaften und ayurvedischen Mischungen aus Früchten, Blättern und Wurzeln, denen weibliche Teeliebhaber geheimnisvolle Kräfte nachsagen.

Poesievoll und nach märchenhafter Ferne klingen auch die Teesorten anderer Teeläden, doch nirgends finden sich an den Dosen diese kleinen Kärtchen mit näheren Erläuterungen für so ungewöhnliche Wortkreationen wie »Wilhelms Schokotrüffel« oder »Wilhelms Luise 1856«. Oder »Sencha Viktorias Erdbeerverführung«.

Auf diesen kleinen Kärtchen kommt der Historiker im Teehändler zu Wort: »Zu Ehren der Prinzessin Viktoria, spätere Kaiserin Friedrich, wurde (…) die auf dem Kreuzberg geschaffene Gartenanlage mit dem Wasserfall (dem Zackelfall im Riesengebirge nachempfunden) Viktoria-Park genannt. Stellen Sie sich vor, Viktoria – übrigens die Tochter der englischen Queen Victoria – nimmt ihren Tee im Potsdamer Neuen Palais, es ist Juni, und der Hofgärtner hat für die Teetafel jede Menge Erdbeeren aus den Gärten geholt. Sie werden ›Sencha Viktorias Erdbeerverführung‹ genießen, wie es die Prinzessin getan hätte.«

Merkwürdig klingt auch der Name jener ersten Sorte, die Röblitz nicht vom Händler mischen ließ: Die »Kleinseitener Erinnerungen«. Sie ist benannt nach einer Prager Teestube, in der man den geräucherten chinesischen Lapsang Souchong mit einem milden Sahnetee mischte, der dem europäischen Gaumen näherstand. Am merkwürdigsten aber klingt der »Milch-Kur-Anstalt-Extra«, ein Tee mit einem »zart sahnigen Geschmack«. Die Geschichte der »Milch-Kur-Anstalt« am Viktoriapark kennen die wenigsten, und jedes Mal machen die Zuhörer große Augen, wenn Michael Thomas Röblitz erzählt, daß einst 250 Kühe ihr Domizil am Kreuzberg hatten.

Hans W. Korfmann


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