Kreuzberger Chronik
September 2006 - Ausgabe 80

Essen, Trinken, Rauchen

Kreuzberger Imbisse (1):
Die Leberkässemmel



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von Michael Unfried

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Weißt Du, worauf ich jetzt Lust hätte?«

Die Frau sah gar nicht so aus, als hätte sie auf

so etwas Lust. Sie sah eher wie ein Filmstar aus.

Ein französischer. Schlank, elegant, brünett, Pony. Eine Spur zu elegant eigentlich für Kreuzberg. In den Siebzigern hätte sie sich hier nicht blicken lassen dürfen.

»Einen Artischockensalat?«, fragte der Begleiter, der auch eine Spur zu elegant für das Kreuzberg der Siebziger gewesen wäre, aber ins Kreuzberg der Nuller ganz gut paßte.

»Artischockensalat? Hab ich jemals Artischockensalat gegessen?«

»Nein!«, sagte der Begleiter. Und fügte hinzu:

»Döner!«

»So ähnlich!«

»Currywurst!«

»Ich komme aus Niederösterreich.«

»Leberkässemmel!«

Sie blieb stehen, stellte sich auf eine Fußspitze, knickte das andere Bein filmreif nach hinten, während sie die Arme um den Hals des Geliebten warf und ihn küßte. »Aber hier gibts doch in der ganzen Stadt keinen Leberkäs«, sagte er. »Bei Karstadt, der sieht gut aus, aber trieft von Fett, beim Metzger am Platz der Luftbrücke schmeckt er wie Wienerwürstchen, und bei diesem alternativen Griesgram in der Körtestraße kriegst du ihn kalt, und wenn du meckerst, wirft er dich raus.«

»Tja, aber jetzt gibts das Austria

»Das mit den Riesenknödeln und dem buckelnden Kellner? Darüber hat sich die Kreuzberger Chronik doch schon im letzten Jahrtausend lustig gemacht: Gstatten, gnäädger Herr, was darfs sein der gnäädge Herr?, eine Marille der gnäädge Herr ...«

»Komm einfach mit«, sagte die Niederösterreicherin und zog den willenlosen Galan an der Hand hinter sich her, wie sonst nur französische Schauspielerinnen Männer hinter sich herziehen. »Felix Austria. Gleich nebenan. Die sollen den besten Leberkäs von Berlin haben.« Sagte sie, warf die Haare zurück und lachte, wie sonst nur französische Schauspielerinnen lachen. Wenn sie an etwas ganz anderes als Leberkässemmeln denken.

Im Felix Austria durchstürmte sie die Tür, postierte sich vor der Theke, wie sich sonst nur ..., ließ einen verträumten Blick über die Auslage mit Extrawurst, Schinkenspeck, Soletti und Käsekrainer schweifen und rief: »I hät gern a Leberkässemmel«.  Doch die Frau hinter dem Tresen lächelte nicht. Sie fragte trocken:

»Süßer oder scharfer Senf?«

Da fiel die Niederösterreicherin aus der Rolle. Während auf ihren Lippen noch das erstarrte Lächeln stand, hatte sich in ihren Augen bereits blankes Entsetzen ausgebreitet. So wie bei dieser Schauspielerin, der plötzlich klar wird, daß der Mann sie nicht lieben, sondern töten möchte. Wegen des Geldes! Leberkäs mit Senf! Was für eine Stadt! Was für ein Land!

»Nur eine Semmel bitte!«, stammelte die Leberkässemmelkäuferin.

»Wie bitte?«, fragte die Leberkässemmelverkäuferin.

»Nur mit einer Semmel bitte!«, sagte noch einmal kleinlaut die Niederösterreicherin und sah plötzlich ganz anders aus als französische Schauspielerinnen.

»Zweifünfzig«, sagte die Frau hinter der Theke und reichte die Leberkässemmel rüber, als wäre es eine Currywurst. Aber es war keine Currywurst, es war eine Leberkässemmel. Die beste Leberkässemmel Berlins. Und der Leberkäs kam original aus Niederösterreich. Aus genau jenem Ort, in dem sie geboren war. Aber das alles schmeckte die junge Österreicherin nicht mehr. Verstört und traurig ging sie dahin.


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