Kreuzberger Chronik
Oktober 2006 - Ausgabe 81

Witzels Geschichten

Der Tag, als Rosi kam


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Autor unbekannt

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Jedenfalls gehe ich normalerweise jeden Mittwoch zum Anarchistenstammtisch ins Café Blümel gegenüber vom Wasserturm. Früher haben wir uns immer im Jodelkeller an der Adalbertstraße getroffen. Da hatte man dann den Eindruck, daß alle die Kalaschnikoff draußen an der Garderobe abgegeben haben und nur eine kurze Verschnaufpause einlegen, bevor der graue Alltag weitergeht mit Ton, Steine, Scherben und Schwarzfahren und Info-BUG und »Venceremos!« und so.

Im Café Blümel legen die Wirtsleute Willi und Viola und usdackel Milli Vanilli allerdings Wert darauf, daß das hier keine Kneipe ist, sondern ein Kaffeehaus, bzw. ein Fachgeschäft und keine Würstchenbude. Deshalb machen sie meistens schon Feierabend, wenn es draußen dunkel wird. Also wurde der Stammtisch um ein paar Stunden vorverlegt, und wem das nicht paßt, der kann ja wegbleiben und angepaßt werden.

Letzten Mittwochnachmittag also tauchte dieser Typ auf und setzte sich an den Tisch am Fenster und schaute nach draußen auf das Kopfsteinpflaster der Fidicinstraße. Willi schmeißt ja nun erst mal keinen raus. »Ich gehe mit keinem Mann ins Bett«, sagt er immer, »aber ich steige mit jedem in den Ring.«

Also hat er sich dazugesetzt und ein Gespräch angefangen. Bei Männern macht er das immer so, daß er sagt: »Ich glaub, ich hab dich schon mal gesehen  du hast früher Fußball gespielt, wa?« Und auch der Neue bekam gleich glänzende Augen: »Stimmt! Bei Dynamo Pattensen, da war ich im Sturm. Ich hatte die 14 und hieß Männe Lewandowski. So heiß ich nämlich, jedenfalls Lewandowski mit Nachnamen und Hermann mit Vornamen. Wir sind sogar mal in die dritte Kreisliga aufgestiegen!«

»Ich bin Willi Thielicke«, sagte Willi. »Ich hab früher geboxt bis zum Umfallen, und weil ich immer so schüchtern war, nannten sie ich den schüchternen Schläger von der Zeitungsjungenmafia Methfesselstraße.« »Zeitungsjungenmafia Methfesselstraße«, sprach Lewandowski die letzten beiden Wörter andächtig nach wie eine Echoschleife. »Wie viele wart ihr denn immer so?«

Willi dachte nach. »Meistens war ich alleine«, stellte er fest, deshalb war ich ja so schüchtern. Die, die stärker waren als ich, mit denen wollte ich nichts zu tun haben, und die, die schwächer waren als ich, die wollten mit mir nichts zu tun haben.«

Und dann ging endlich die Tür auf und Rosie kam rein und sagte: »Wer andere einschüchtert, ist selber schüchtern. Peter Handke!« Und dann hat sie eine Kiwischnitte bestellt und Willi mußte bedienen, und Rosie setzte sich zum ehemaligen Stürmer von Lokomotive Pasewalk an den Tisch am Fenster. 2005 ist Rosie von der Kassenärztlichen Vereinigung zur schönsten Patientin des Jahres gewählt worden, und Honoré de Balzac hat ein gern gelesenes Buch über sie geschrieben: »Die Frau von dreißig Jahren«.

Willi blieb vorn am Tresen bei der sündhaft teuren original italienischen Kaffeemaschine, damit die nicht geklaut wurde und er auch mal seine Ruhe hatte. »Du siehst aus, als hätte es dir die Petersilie auf dem Balkon verhagelt«, stellte Rosie fest.

»Meinst du mich?« rief Willi von der Kaffeemaschine. »Nee«, antwortete sie. »Du hast doch gar keinen Balkon, oder? Ich meine ihn hier.« »Ach,« seufzte Lewandowski, »wieso denn? Ich bin doch eigentlich ein ganz zufriedener Kunde unserer Arbeitsagentur«.


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