Kreuzberger Chronik
November 2006 - Ausgabe 82

Die Reportage

Die Spurensucher


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von Gerald Hausner

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Können Sie sich erinnern, ob die Frage »Jüdisch oder Nichtjüdisch?« ein Thema in der Schülerschaft war?« – »Ich glaube«, sagt da der alte Mann, »daß die Schüler damals genauso verschieden waren wie heute auch. Es gab so’ne und solche. Wir hatten einen Jungen in der Klasse, der war ein 150%-iger Nazi. Eines Tages war er nicht mehr da, und dann hieß es, man hätte eine jüdische Großmutter bei ihm entdeckt. Und da er ein sooo überzeugter Nazi war, konnte er sich hier nicht mehr blicken lassen und mußte die Schule wechseln«.

Auch der alte Mann, Hans Goetz, hat die Schule verlassen müssen. Eine seiner »letzten Erinnerungen« ist die an eine Schlägerei: »Und dann kam der Studienrat Röbbke, und ich sah ihn gar nicht, und der hat auch ein paar von mir gekriegt. Und dann mußten wir beide zum Rektor, der Röbbke und ich. Aber die waren sehr vernünftig und ruhig, die haben es sehr verstanden …«

»Kurz vor Ihrem Schulwechsel war das?« Die das fragen, sind keine Journalisten auf der Jagd nach Bestätigungen zur bereits feststehenden Meinung, sondern es sind junge Frauen und Männer, Schüler des Leibniz-Gymnasiums. So alt etwa wie jener Hans Goetz es damals war, als er die ehemalige Friedrichs-, spätere Litzmann- und heutige Leibniz- Schule besuchte.

»Jaja, das war kurz vor dem Schulwechsel. Und es ist möglich, daß man nach diesem Zwischenfall meinen Eltern gesagt hat, daß es wohl besser wäre, wenn ich die Schule verlasse. Wenn ich schon anfange, mich mit den Lehrern zu schlagen.«

Immer wieder erzählt Goetz solche netten Anekdoten. Als wären es ganz normale Schuljahre gewesen. Als hätte es die Schrecken des Nationalsozialismus nicht gegeben. Immer wieder muß er auf die Fragen der Schüler, deren Bild der Judenverfolgung von Filmen, Büchern und Zeitungsberichten geprägt ist, mit Kopfschütteln antworten. Vielleicht war es das, was sie von Anfang an faszinierte: Daß sie plötzlich der Wahrheit gegenüberstanden, die anders war. Und daß sie selbst und aktiv im Internet, in Büchern und in Archiven die Schicksale von 229 ehemaligen Schülern ihrer Schule recherchieren konnten, deren Spuren mit dem Verlassen der Schule so oft im Nirgendwo verliefen.

Begonnen hat die große Suche eine Religionslehrerin. Frau Hinder stolperte eines Tages über einen der bronzenen Stolpersteine, die inmitten des Berliner Straßenpflasters vor Haustüren und Hofeinfahrten an das plötzliche Verschwinden jüdischer Bewohner erinnern. Sie dachte: So etwas müssen wir auch machen! Also bestieg sie das kleine Türmchen des Schulgebäudes, das 1896 zum Zweck astronomischer Beobachtungen errichtet worden war, und kramte in den alten Schulakten. Sie fand das Aufnahmealbum, worin sämtliche Schüler aus den Jahren 1919 bis 1940 mit Anschrift und Religionszugehörigkeit verzeichnet waren.

Irgendwann standen neben Silke Hinder und Christiane Thies von der politischen Weltkunde auch fünfzehn Schüler der 12. Klasse im windigen Turmzimmer und betrachteten das Bild der streng blickenden Lehrerschaft aus dem Jahr 1942. Rechts außen trug ein Mann die Hakenkreuzbinde. Sie blätterten in den alten Abiturszeugnissen, lasen die selbstverfaßten Lebensläufe, von denen einige schon bald mit dem Tod enden sollten. Sie stießen auf den Namen von Werner Haberthür, »Religionszugehörigkeit katholisch« – und auf den daneben mit Rotstift hinzugefügten Vermerk: »Mutter nicht arisch«. Das blasse Rot faszinierte die Schüler. Diese allmählich verbleichende Schrift hier war echt, und sie war blutiger als das Blut in Filmen. »Von dem Moment an waren wir alle dabei. Hundertprozentig! NiObwohl das Thema ja eigentlich schon ziemlich abgegessen war!«, erinnert sich einer jener Schüler, die damals mit dabeiwaren im Turmzimmer.

Der Schüler ist auch ein halbes Jahr später dabei, als mit Hans Goetz der erste aus den staubigen Akten plötzlich leibhaftig aufersteht. Und
seine Schulgeschichten erzählt. Was ist mit den Lehrern, fragen die Schüler, die noch immer die alte Fotografie aus dem Turmzimmer vor Augen haben, wie waren die?

»Ich hatte keine unangenehmen Lehrer. Sogar, das erstaunte mich, als ich neulich erfuhr, daß der Fritz Huth in der SA-Kleidung auflief, der war eigentlich immer ein netter Mensch gewesen …« Fritz Huth, das ist der mit dem Hakenkreuz auf dem Foto. Immer wieder muß der 85jährige Goetz die Bilder in den Köpfen der Schüler korrigieren. Es gab keine Rassenkunde im Biologieunterricht, und er »hatte den Eindruck, daß die meisten Lehrer nicht viel von der NSDAP hielten. (…) Und wenn etwas war, dann hatte man schon als Schüler den Eindruck, das machen die, weil sie es machen müssen.«

Der alte Mann erzählt, als sei es eine ungetrübte Kindheit gewesen. Schultage mit Schulstreichen, an die man sich später gerne erinnert. Er verblüfft, er enttäuscht damit seine Zuhörer. Er bricht das Klischee. Obwohl doch auch er 1938 nach Dänemark flüchtete. Obwohl doch einige seiner Mitschüler ums Leben gekommen waren. »10% der jüdischen Schüler unserer Schule«, rechnet die Politik-Lehrerin aus, »haben die Lager nicht überlebt. Das ist keine unbeeindruckende Ziffer.« Aber das alles hat Goetz nicht gesehen. Nicht einmal von seinem Mitschüler Sigurd Steinberg hat er gehört.

Dabei ist Steinbergs Schicksal eines, das nicht nur die Schüler des Leibniz-Gymnasiums berührt. Der Historiker H. J. Lang recherchierte mehrere Jahre über die Ermordung von 86 Juden in einem kleinen Konzentrationslager in Natzweiler – Struthof. Einer von ihnen war Sigurd Steinberg, aus der Tempelherrenstraße. Sechs Jahre nach dem Verlassen des Gymnasiums in der Schleiermacherstraße wird er mit seiner Mutter und seiner Frau nach Auschwitz gebracht, einige Monate danach muß er weiter nach Natzweiler. Man hatte den Häftlingen Verbesserungen in Aussicht gestellt, doch in der Kühlkammer des Hotels Struthof finden sie nur noch den Tod. Steinberg wurde ermordet, weil man seinen Schädel für eine Ausstellung verwenden wollte. Zu der obszönen Schädelausstellung kam es jedoch nie, da die Alliierten näherrückten und die Mörder ihre Exponate panisch in Massengräber warfen.

»Der war so alt wie ich!«, sagt Nicolas Diekmann, der über das kurze Leben Steinbergs eine 25seitige Arbeit verfaßt hat und auch heute noch zu den Spurensuchern gehört. »Annäherungen an Sigurd Steinberg« nennt er die im Abitur ausgezeichnete Facharbeit, ›Annäherung‹ deshalb, weil man ein Leben nicht auf 25 Seiten unterbringen kann.« Es gab eine Zeit, da hat er seine Lehrerin »öfter gesehen als die eigene Mutter«. Aber Diekmann war nicht der einzige, der ein Thema fand, das ihn fesselte. Jeder Schüler verfolgte seine eigene Spur, hatte sein »eigenes« Schicksal.

»Die waren alle gleich voll drin in so einer Biographie!«, sagt Christiane Thies. »Von dreißig Schülern, die gefragt wurden, ob sie während der Projekttage eine Ausstellung zu jüdischen Schülern während der NS-Zeit erarbeiten möchten, war die Hälfte sofort dabei.« Und die für den Tag der offenen Tür geplante »Miniausstellung«, die innerhalb weniger Wochen zustandekam, präsentierte bereits sieben knapp formulierte Lebensläufe. »Es war die Nähe zu den Schicksalen!«, sagt die Leiterin. »Das berührt einen einfach.«



Christiane Thies hat längst selbst Forscherdrang entwickelt. Alle, Schüler wie Lehrer, sind stolz, wenn sie mit kriminalistischem Gespür im fernen Amerika tatsächlich die Tochter eines ehemaligen Schülers ausfindig machen, die dann bestätigt: »Ja, Kurt Szafranski ist mein Vater gewesen, und er war mit Tucholsky befreundet und illustrierte eines seiner Frühwerke.« Oder wenn sie herausfinden, daß derjenige, der Stauffenberg den Sprengstoff für das Hitlerattentat lieferte, einmal auf »unsere Schule« ging. Oder wenn sich auf eine Suchanzeige tatsächlich ein Mann aus einem Kibbuz in Israel meldet: Henry Klausner. Auch er ist anläßlich des hundertjährigen Jubiläums der Schule im September gemeinsam mit Hans Goetz für eine Woche nach Deutschland und an die alte Schule zurückgekehrt. Nach 68 Jahren!

Diese Erfolgserlebnisse brauchen die Spurensucher, um weiterzumachen. Sie brauchen die Unterstützung der Schulleitung, des Landesarchivs, die Einsicht in Entschädigungsakten, oder die Schirmherrschaft von Julius Schoeps, dem Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums. Um auch den noch verbleibenden 140 jüdischen Schülern auf die Spur zu kommen, von denen sie noch nicht mehr haben als den Namen und eine uralte Anschrift. Denn sie wollen weitermachen, »auch wenn das Recherchieren immer schwieriger wird.«

Sie werden noch andere jüdische Schicksale beleuchten, solange sie dieser von kriminalistischer Neugierde und persönlicher Nähe zu den Opfern geprägte Forscherdrang vorantreibt. Persönlich, weil jene eben auch einmal in diesen Mauern saßen und lernten, genauso am Anfang ihres Lebens standen wie jetzt sie. Und weil die Lehrer noch immer ihre Notizen in diese dicken Bücher schreiben, die noch genauso aussehen wie damals. Sie haben genug Filme gesehen, in denen die SS über’s Pflaster marschiert, in denen Nazis bellen und Frauen erschossen werden. Aber hier, zwischen den alten Büchern, in diesen nackten Listen, steckt das wahre und nüchterne Leben.

Am 13. September, zur feierlichen Einweihung einer Gedenktafel für die Opfer des NS-Regimes, sind in der gemeinsam mit dem Landesarchiv Berlin konzipierten Ausstellung bereits 26 beeindruckende Lebensläufe festgehalten. Aus den Projekttagen ist eine Arbeitsgemeinschaft geworden, die sich vierzehntägig außerhalb der Schulzeiten trifft. Innerhalb von 15 Monaten hat diese Arbeitsgemeinschaft jetzt 83 Schicksale ehemaliger Mitschüler rekonstruiert. 44 von ihnen emigrierten, aber 26 von ihnen kamen aus den Konzentrationslagern nie zurück.

»Warum macht Ihr das eigentlich alles?«, fragte der alte Herr Goetz die Schüler beim Abschied auf dem Flughafen. Und da muß ihnen dieser Satz wieder eingefallen sein: »Ich hätte gerne, daß sich jemand daran erinnert, daß einmal ein Mensch lebte, der David Berger hieß.« Dieser Satz aus dem letzten Brief eines jüdischen KZ-Häftlings ist so etwas wie das Leitmotiv der Spurensucher geworden. Die Schülerinnen und Schüler des Leibniz-Gymnasiums tragen dazu bei, daß dieser bescheidene Wunsch David Bergers in Erfüllung geht.


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