Kreuzberger Chronik
März 2006 - Ausgabe 75

Die Literatur

Der Kleine Satellit


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von Horst Evers

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Im Bus. Der Junge auf dem Sitz vor uns zückt sein Handy, wählt eine Nummer, spricht:  Ey, nur daß dus weißt, ich ruf dich nich mehr an. Nur, daß das klar is, wie ichs gestern schon gesagt habe, ich hab dich komplett gestrichen. Von mir kriegst du keinen Anruf mehr... ... ...

Wenn man lange genug in Berlin lebt, hat man sich eigentlich an Sonderlinge gewöhnt. Der Berliner hat reichlich davon, nennt sie meist liebevoll: ein Original, und läßt sie ansonsten gewähren. Was ich mich nur manchmal frage, ist: Was geht in einem Satelliten vor, wenn er solch einen Anruf übermitteln muß? Da kreist dieser kleine Satellit Tausende von Kilometern über der Erde. Es ist kalt, es ist ungemütlich, es ist stockduster. Es sind beschissene Arbeitsbedingungen. Und dann plötzlich: ein Anruf! Über Tausende von Kilometern kommt dieses Signal zum Satelliten. Der ist natürlich in heller Aufregung: Oh Gott, oh Gott, Menschen wollen miteinander sprechen, meine Schöpfer wollen kommunizieren. Ich muß ihnen helfen, ich darf jetzt nicht versagen. Ein Auftrag, ein Auftrag über Tausende von Kilometern gereist, ein großer Auftrag. Oh Gott, oh Gott, oh Gott, oh Gott. Also gut, ganz ruhig. Welche Nummer ruft er denn an? Wo hält sich diese Nummer auf? Ich muß diese Nummer finden, diese Nummer, irgendwo muß diese Nummer sein. Wo ist diese Nummer!!!???

Und dann beginnt er aus dem dunklen, kalten Weltall heraus über Tausende von Kilometern die ganze Welt abzuscannen. In Bombay, in Rio, in Tokio& Wo ist diese Nummer? Verdammt, die muß doch irgendwo sein! Da! In Berlin, da isse. Ach guck mal, nich mal 500 Meter voneinander entfernt. Na ja, so klein ist die Welt. Egal, ich werde jetzt diese Verbindung herstellen, über Tausende von Kilometern, hin und zurück, zweimal Tausende von Kilometern, aber ich habs jetzt. Es ist nicht einfach, es ist gar nicht so einfach. Der eine bewegt sich auch noch, ist im Bus oder so, ich weiß es auch nicht. Aaaaaahh ... aber ich schaff das, ich halte die Leitung. Jetzt meine Schöpfer, könnt ihr kommunizieren. Aaaaahh ...  Euer Gespräch.

Und dann hört er: »Ey, isch ruf dich nicht mehr an.« Was also denkt ein Satellit im dunklen, kalten Weltall in solch einem Moment? Der muß sich doch verarscht vorkommen. Aber so richtig. Ich bin fest davon überzeugt, wenn es eines Tages zur Rebellion der Maschinen kommt, dann wird die nicht angeführt von irgendwelchen HighTechWaffensystemen mit ihren durchgeknallten Weltallmachtsphantasien. Nein, es wird die Kommunikationselektronik sein, die rebelliert. Weil sie sich diesen ganzen Scheiß einfach nicht mehr anhören will.

Dieses ganze Zeugs, wie: »Ich bin gleich da, du müßtest mich schon
sehen können!« oder »Hier in Friedrichshain regnet es den ganzen Tag, wie ist das Wetter bei Euch in Kreuzberg?« oder auch «Oh, dich wollt ich ja gar nicht anrufen, hab ich wohl aus Versehen die falsche Nummer gewählt, na ja ich ruf dich später noch mal an.« Manchmal sehne ich mich nach den alten, sehr archaischen Formen der innerstädtischen Kommunikation: Zettel im Hausflur zum Beispiel: Die Heizung wird gewartet. Komme Dienstag, den 22. 10. zwischen 9 und 18 Uhr. Stellen Sie den Zugang zur Wohnung sicher&

Entnommen aus Horst Evers, Gefühltes Wissen, Eichborn Verlag, 2005, ISBN 3-82184-932-0, 12,95 ¤


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