Kreuzberger Chronik
Juli 2006 - Ausgabe 79

Luft und Kerr

Das Leben der Anderen


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von Michaela Prinzinger

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Michaela Luft war unentschlossen, ob sie ihren Freund Kerr ins Kino einladen sollte oder nicht. Sie wußte, daß er zur Sentimentalität neigte, die sich besonders bei Kinobesuchen unangenehm bemerkbar machte: durch Schniefen, starre Blicke und verkrampfte Finger. Und dann noch in einen Film wie »Das Leben der Anderen«, der garantiert mit der Tränendrüse arbeitete. Aber der war ein absolutes Muß nach «Sonnenallee« und »Good Bye, Lenin!« Und Kerr war auch gleich begeistert, was verdächtig war. Er fand, scheints, in seinem Alltag sonst kein Ventil für seine unterdrückten Gefühle. Und so verabredeten sie sich vor dem Yorck-Kino ...

Luft & Kerr kamen nicht unvorbereitet zum Kunstgenuß. Was war nicht alles geschrieben und gemutmaßt worden über diesen Film! Und der Skandal folgte natürlich auf dem Fuße: Die Frau des Hauptdarstellers Ulrich Mühe, die Schauspielerin Jenny Gröllmann, ließ durch eine Einstweilige Verfügung die Auslieferung eines Buchs des Regisseurs verbieten. Denn darin wurde ihre Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit publik.

Ums kurz zu machen: Luft & Kerr verließen das Kino ergriffen und beeindruckt. »Die Idee finde ich genial«, bemerkte Luft beim Verlassen des Kinosaals, als sich Kerr heimlich die Augen wischte, »den StasiOffizier sozusagen zum Regisseur im Leben des Liebespaars, des Schriftstellers und der Schauspielerin, zu machen. Nicht nur ein stiller akustischer Voyeur, der in der Abhörzentrale sitzt, sondern einer, der Zeit für bittere Wahrheiten sagt und Schicksal spielt.« Kerr räusperte sich: »Ja, und ich hab auch gar nicht geweint diesmal. Das passiert mir nur bei HollywoodFilmen, die über alle Schamgrenzen hinweg auf die Tränendrüsen drücken. Ein anständiger deutscher Film tut so etwas nicht.«

Luft fuhr fort, ohne auf Kerrs Geständnis einzugehen: »Verwunderlich ist nur das große Erstaunen von Frau Birthler und Herrn Biermann darüber, daß auch junge westdeutsche Regisseure gute Filme über die DDRGeschichte drehen können. Als läge die Deutungshoheit allein in der Hand jener Zeitgenossen, die das System miterlebt haben!« »Dann dürfte sich kein Mensch mehr zu den Napoleonischen Kriegen oder zum Ersten Weltkrieg äußern«, sekundierte Kerr. »Tja, die DDR ist eben dabei, Teil der Geschichte zu werden und aus dem Gegenwartsbewußtsein zu entschwinden.«

»Ist dir die Filmmusik von Gabriel Yared aufgefallen? Darauf achten die wenigsten. Aber sie macht einen großen Teil des Zaubers aus.« Kerr nickte und kratzte sich nachdenklich am Schädel: »Nur& so ganz kann ich nicht an die plötzliche Wandlung des StasiOffiziers glauben. Die geht mir ein bißchen zu schnell, so von einer Minute auf die andere: gerade noch strammer Dozent an der StasiHochschule, und dann fast übergangslos das Erwachen aus der emotionalen Totenstarre...« Doch Luft fiel ihm ins Wort: »Das ist es ja gerade, die Wandlung war in seiner Persönlichkeit schon angelegt und suchte nur den geeigneten Moment. Das ist das Geheimnis jeder Entwicklung.«

Kerr runzelte die Stirn: »Das ist mir zu philosophisch. Aber weißt du eigentlich, warum ich Literatur lese und ins Kino gehe? Das Leben der Anderen interessiert mich einfach mehr als mein eigenes.«


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