Kreuzberger Chronik
Oktober 2005 - Ausgabe 71

Kreuzberger Legenden

Die Legende von Rudi Dutschke


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von Dr. Seltsam

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Ach, wenn die Grünen doch nur öfter sich in dieser Weise auf ihr rebellisches Erbe besönnen, wahrlich, wir hätten sie nicht so hart bestraft bei den letzten Wahlen! Eine schöne Idee, ausgerechnet die Straße beim Springer-Verlag nach Dutschke zu benennen, einem ihrer Gründerväter; denn nach allgemeiner Meinung der linken Studenten und der demokratischen Öffentlichkeit trugen tatsächlich die blutigen Produkte aus der Kochstraße Schuld am Tode des Studentenführers. Der junge Gelegenheitsarbeiter Bachmann, der den »Roten Rudi« Karfreitag 68 nach Westernart vom Fahrrad schoß, hatte die Birne und die Taschen voll BILD. Er glaubte alles, was BILD schrieb, erst im Gefängnis überkamen ihn offensichtlich Zweifel, jedenfalls brachte sich der Mann um. Rudi selbst starb an den Folgen der Kopfschüsse zehn Jahre später ziemlich jämmerlich: Er ertrank infolge eines epileptischen Anfalls in der Badewanne, Weihnachten 1980. Er hatte es mit den Feiertagen, eigentlich hatte er Theologe werden wollen.

Das Straßenstück, das nun nach ihm benannt werden wird, hat Dutschke wohl nie gesehen, und die große Oster-Randale an diesem Ort mit blutenden Bullen und brennenden Springer-Wagen fand erst viel später statt, da durchschritt Rudi schon das jahrelange Jammertal in Reha-Kliniken, um wieder das Sprechen zu lernen. Tatsächlich war Rudi Dutschke vor dem Mordanschlag oft nachts in Kreuzberg, nahm den einen oder anderen Absacker, trank sich nächtens die schweren theologischen Gedanken aus dem Kopf und fuhr im Morgengrauen mit der Linie 1 wieder heim. Hier war vielleicht der Ort, wo er die innigste Beziehung zum »revolutionären Subjekt« fand, zur Arbeiterklasse, soweit sie dem Alkohol und der Promiskuität frönte: Ellis Bierbar am »Görli«.

Ellis Bierbar lag bis 1997 in der Skalitzer Straße gegenüber der Hochbahnstation, im Hochparterre, momentan wird das Haus saniert. Die Kneipe war in der Weimarer Republik eine der ersten Schwulenkneipen, ein »Künstlertreff« unter dem Schutz des bekannten Labels »Hier können Familien Kaffee kochen«. In den Fünfzigern machte der Betrieb durch seine pittoreske Innenausstattung von sich reden, insbesondere Hitlers Nachttischlampen aus der Ruine der Reichskanzlei. Um diese Zeit übernahm »Elli« die Bierbar, angeblich eine alte Lesbe, man
weiß es nicht genau; jedenfalls wirkte sie stets sehr handfest in ihrer alterslosen Lederweste und konnte auch störende »Kieberer« persönlich rauswerfen. Ab vier Uhr morgens kamen Nutten und Transvestiten mit Taxis vorgefahren, oder die Linie 1 brachte späte Gäste von den Touristenpuffs am Kudamm und vom »Stutti«, wo später die »Kommune 1« wohnte, die wiederum zu gerne den prominenten Rudi als Mitbewohner gewonnen hätte.

Ellis Bierbar war ein Treffpunkt für Menschen, die kurz vorm Morgengrauen noch was zu reden hatten. Arbeiter kamen von der Nachtschicht oder gingen zur Frühschicht, gleichzeitig aber diente der Anstrich einer bürgerlichen Familienkneipe den Schwulen als gesellschaftlicher Schutzraum. Ellis Bierbar war Legende, Günter Grass wurde hier gesehen, Ingeborg Bachmann, Kurt Mühlenhaupt und eben Rudi Dutschke. Er traf sich hier mit Mulle Woik, einer Soziologie-Studentin an der Freien Universität, die vier Jahre Bautzen abgesessen hatte, während ihr Vater als Parteifunktionär in der Stalinallee wohnte. In ihrer Wohnung
sollen die blauen Marx-Engels-Bände nur noch als Bettpfosten gedient haben. Dutschke hat die seinen, wie man weiß, besser verwendet, und es wäre gar nicht schlecht, wenn seine grünen Erben auch mal wieder in die blauen Bände schauen würden.


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