Kreuzberger Chronik
November 2005 - Ausgabe 72

Die Reportage

Neues Heim, neue Heimat


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von Hans W. Korfmann

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Ein bißchen komisch ist das ja schon«, sagt Serdar Celik. »So wie im Faust: Sie kriegen die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Erst brauchten sie die Wasserträger, und jetzt würden sie sie am liebsten wieder heimschicken.

Aber die sind hier längst daheim und machen immer weiter!« Fünfzig Jahre ist es her, da wurde das erste Abwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland unterzeichnet. Da kamen die ersten von ihnen nach Berlin. Inzwischen sind es 400.000. Doch es gibt kein Wasser mehr zu tragen. Es gibt jetzt 4,7 Millionen Arbeitslose im gesegneten Land.

Serdar Celik ist einer jener türkischstämmigen Bewohner der Hauptstadt, die so europäisiert sind, daß sie sich kaum noch von ihren deutschen Mitbewohnern unterscheiden. Sie sind Auswanderer der 3. Generation, haben studiert, leben mit ihren Freundinnen in »wilder Ehe«, lesen deutsche Zeitungen und gehen griechisch Essen. Sie sind die Vorzeigemigranten der Nation, die Integrierten.

Einer von ihnen sitzt zusammen mit seiner Frau in einem der glänzenden Busse von Gullivers Reisen. Es wird nur eine kleine Stadtteilrundfahrt werden, einmal kurz durch den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Der Himmel über Berlin ist strahlend blau, die Reiseveranstalter reichen ihren Teilnehmern türkische Trauben und türkischen Honig. Alle sind bei guter Laune, schließlich kostet der Ausflug nichts. Denn eigentlich ist das so eine Art Butterfahrt, die sie hier inszeniert haben, die Firma WorkArt + Bestgen, im Grunde möchten sie die türkischen Kreuzberger zu etwas überreden. Zu einem Haus nämlich. Einer Art eigenem Heim in der Fremde.

Denn wo sollen sie hin, all jene türkischen Familien, die in den Siebzigern in die unkomfortablen Altbauten mit den qualmenden Öfen zogen, deren einst bröckelnde Fassaden inzwischen frisch verputzt in altem Glanz erstrahlen, die jetzt, modernisiert und mit Zentralheizungen ausgestattet, zu gewinnträchtigen Immobilien geworden sind. Einst standen die alten Häuser unter der schützenden Hand des Senats, die Mieten waren gesichert. Nun aber werden die ersten Häuser der staatlichen Wohnungsbaugesellschaften in Friedrichshain-Kreuzberg verkauft. Andere werden folgen. Das Schicksal der Bewohner scheint besiegelt, Immobilienmakler aus aller Welt haben Interesse für die rentablen Häuser signalisiert und nichts anderes im Sinn als Profit.

Um dem drohenden Unheil entgegenzuwirken und die Zerstörung über viele Jahre gewachsener sozialer Strukturen zu verhindern, wurde den Bewohnern der betroffenen Häuser vom Senat das Erstkaufrecht zugesichert. Tatsächlich konnten bereits einige Mieter zu Eigentümern werden. Doch nicht immer ist die Einwohnerschaft finanzkräftig genug, um gleich ein ganzes Haus zu kaufen. Eine Alternative zum Eigenerwerb ist die Gründung oder der Anschluß an eine bereits bestehende Genossenschaft. Eine Alternative, die auch für ausländische Einwohner durchaus praktikabel sei, wie die Reiseleiterin im Bus mehrfach betont. »Wir werden drei genossenschaftliche Wohnprojekte besuchen, die durch den Verkauf landeseigener Grundstücke entstanden, damit Sie sehen, was alles möglich ist. Einmal sehen ist besser als zehnmal hören!«

Beim Genossenschaftsmodell kaufen die Mieter keine Quadratmeter, sondern relativ erschwingliche Genossenschaftsanteile, die sie jederzeit auch wieder abgeben können. Die Genossenschaft ist der Käufer und kümmert sich um die Finanzierung. Die Bewohner des Hauses zahlen eine festgelegte Miete an die Genossenschaft, wovon notwendige Renovierungen, von den Mietern gewünschte Veränderungen und der Kaufpreis des Hauses bezahlt werden. Nach Ablauf von 1015 Jahren ist eine sinkende Miete zu erwarten, da das Haus schuldenfrei und renoviert ist. Darüber hinaus gibt es Genossenschaftsmodelle, die gleichzeitig den Kauf der Wohnungen durch die genossenschaftlichen Mieter zulassen.
»Mit dem Genossenschaftsmodell«, so der zuständige Stadtbaurat Dr. Franz Schulz, »kann ein wertvoller Beitrag zur Integration der Migrantinnen und Migranten in Berlin geleistet werden«. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat das Kreuzberger Modell in ein Forschungsprojekt einbezogen, das sich mit genossenschaftlichem Wohnen in Deutschland als »zukunftsweisender Alternative« zu gnadenloser Privatisierung einerseits und staatseigenen Immobilien andererseits befaßt. Auch aus architektonischer Sicht haben die Projekte auf sich aufmerksam gemacht. Die Wohnungsgenossenschaft Fidicinstraße 18 eG wird im November dieses Jahres sogar mit dem »Deutschen Bauherrenpreis« für »Hohe Qualität  tragbare Kosten« ausgezeichnet. Innerhalb relativ kurzer Zeit haben die Bewohner das Haus aus der Gründerzeit in eigener Initiative komplett durchsaniert und zu »34 Einfamilienhäusern unter einem Dach gemacht«, wie der Architekt des Projektes selbstlobend bemerkt.

Foto: Michael Hughes
Doch die ehemalige Mietergemeinschaft in der Fidicinstraße war finanzkräftiger, als es Herr Celik mit seiner Freundin sein wird. »Wie hoch werden die Mieten sein?«, ist die erste Frage der kleinen Reisegruppe, als sie auf der Dachterrasse eines Genossenschaftshauses stehen und die Solaranlage und die schönen Balkone bewundern. »Nicht alle Häuser sind so schick geworden«, räumt Klaus Sonderfeld von der Bewohnergenossenschaft FriedrichsHeim ein, »aber es zeigt auch deutlich, was möglich ist, wenn sich die Mieter zusammentun und gemeinsam beschließen, was geschehen soll«. Mit der Solaranlage, dem selbstgepflegten Hof, der sorgsamen Müllentsorgung, der hauseigenen Warmwasseraufbereitung und der Regenwassernutzung reduzieren sich Betriebskosten. In anderen Häusern haben die Bewohner sogar begonnen, ihre Treppenhäuser wieder selbst zu putzen. »So günstig und so schön wie in unseren Häusern kann man sonst nicht leben in der Stadt«, sagt Herr Sonderfeld.

»Wozu macht der das eigentlich?«, fragt im Flüsterton eine blonde, schlanke Frau mit einer großen, schwarzen Sonnenbrille. Sie duftet ein bißchen nach Sonnencreme und ein bißchen nach Moschus. Mit ihrer Freundin spricht sie einen Satz auf Türkisch und den nächsten wieder auf Deutsch. Sie hat einen gutgehenden Frisiersalon im Erdgeschoß eines der zum Verkauf stehenden Häuser. Zuerst träumten die Bewohner vom gemeinschaftlichen Kauf, doch dann fehlte ihnen das Geld. Jetzt wird das Genossenschaftsmodell diskutiert, und einige bereits bestehende Genossenschaften haben bereits ihr Interesse an der Hausgemeinschaft signalisiert. Die Friseuse ist dafür. Obwohl sie noch immer ein bißchen skeptisch ist. »Ich mein, irgendwas muß der doch daran verdienen, die machen das doch nicht alles nur für uns.«

Herr Sonderfeld erklärt, warum die Genossenschaften Interesse am Expandieren haben. »Wir dürfen als Genossenschaft zwar keinen Gewinn erwirtschaften, aber je mehr Häuser wir haben, um so mehr be
Foto: Michael Hughes
zahlte Arbeitsplätze können wir schaffen.« Denn während in kleinen Wohnungsgenossenschaften wie in der Fidicinstraße alle Arbeiten mehr oder weniger ehrenamtlich zu tätigen sind, nimmt die Genossenschaft ab einer bestimmten Größenordnung die Form eines kleinen Unternehmens an. Inzwischen besitzt die Bewohnergenossenschaft FriedrichsHeim 13 Häuser, um die sich 4 Festangestellte und 8 Pauschalisten kümmern.

Noch größer ist das »Kapital« der Wohnungsbaugenossenschaft am Ostseeplatz eG, vor wenigen Jahren von Bewohnern des Ostseekiezes gegründet, als ein Verkauf der Anlage an private Investoren anstand. Die ehemaligen Mieter haben gleich das komplette Viertel mit 214 Wohneinheiten gekauft, 150 Balkone angebaut und die kleinen Appartements für Alleinstehende zu familiengerechten Wohnungen zusammengelegt. Im großen Garten sitzen jetzt keine einsamen Rentner mehr, sondern spielen Kinder. Viele Bewohner sind inzwischen zu Wohnungseigentümern geworden. Ein Schritt, der ohne Genossenschaft nicht möglich gewesen wäre.

Sämtliche Projekte, so Barbara Rolfes-Poneß von den Projektleitern WorkArt + Bestgen, »knüpfen unmittelbar an ein Privatisierungsvorhaben von Wohnbeständen des Landes Berlin an.« Sie sind quasi eine letzte und »einmalige Chance« für die Bewohner, das Schicksal ihres Hauses, und damit auch ein Stück eigenes Schicksal, in die Hand zu nehmen. Sie können, bei garantiert niedriger Miete, in ihren Häusern wohnen bleiben, können gemeinschaftlich über die Gestaltung dieser Häuser entscheiden, können Eigentümer werden ohne die sonst lauernden Gefahren von Finanzierungsengpässen.

Das gilt auch für die Adalbertstraße Nummer 80 und 81, zwei Häuser, in denen ein Großteil der Bewohner ursprünglich aus der Türkei stammt. So wie Serdar Celik und seine Freundin. Und wie der alte Herr Sentürk, der im Hof Tomaten und Blumen pflanzt. Die meisten leben schon lange in der Adalbertstraße, ein Vierteljahrhundert, manche länger. Jetzt stehen sie vor ihren Häusern und sehen sie mit neuen Augen. Sie überlegen, wo man die Balkone anbringen könnte, wo ein Fahrstuhl hinpassen könnte. »Man wird ja auch älter.« Die Idee, daß das Haus einmal ihnen gehören könnte, daß sie selbst bestimmen können, was geschieht, gefällt ihnen. Denn ganz unabhängig davon, wie lange sie schon hier sind: So richtig dazu gehören auch die Integrierten noch immer nicht. Doch wenn sie ein Haus hier hätten, ein Haus, das ihnen niemand mehr nehmen kann  vielleicht würden sie dann ein bißchen mehr dazugehören. Vielleicht sogar würde die Fremde mit dem eigenen Heim doch noch zur Heimat.

Dort hinten, unter den Bäumen, könnte der Spielplatz sein. Ein Spielplatz im eigenen Hof, »man könnte vom Balkon aus den Kindern zusehen«, sagt die junge Frau und greift nach der Hand ihres Freundes. Serdar Celik schaut noch etwas skeptisch dorthin, wo einmal der Balkon hängen könnte, aber dann murmelt er doch: »Ja, das wäre schon schön!«



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