Kreuzberger Chronik
November 2005 - Ausgabe 72

Kreuzberger Legenden

Das Kreuzberger Rathaus


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von Dr. Seltsam

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Es war einst ein repräsentativer wilhelminischer Flügelbau gegenüber von Riehmers Hofgarten. Mit dessen Sahnebaiser-Anmutung harmonierte das weiße Amtsgebäude in Vorkriegszeiten, wie man heute noch feststellen kann, wenn man die Reste studiert: Man betrete am Mehringdamm den verwahrlosten Abstellhof zwischen Finanzamt und Wäscherei, dann tapfer bis zum Ende durchmarschiert, und linkerhand liegt, was vom alten Rathaus stehenblieb, und das ist immer noch eine überraschend prächtige Schloßfassade in Pseudo-Klassik.

In den düsteren Kasematten dieser alten Flügel residiert heute das Sozialamt. Das bedeutet in Zeiten von Hartz IV, daß nur die Kinderreichen, Kranken, Chancenlosen in diese Keller geschickt werden. Da sitzen sie dann unter trüben Funzeln mit ausgesägter Nazischrift »Rauchen verboten«. Wer mal einen Menschen hierher begleitet hat und die Ausdünstungen der Armut und des Alkohols, das Babygeschrei und die Verzweiflungstränen der Abgewiesenen gesehen hat, der wird nie mehr behaupten, daß es in Deutschland kein Elend gibt. Das »Sozi« ist der Vorhof zur Hölle.

Ganz anders das vorgebaute neue Rathaus, ein moderner Zehnstöcker aus den sechziger Jahren: hell, offen strukturiert, Parlament und Verwaltung klar getrennt, dominierende Glasflächen, Bürgeranlaufstellen, preiswerte Öko-Kantine mit dem hinreißendsten Rundumblick, geplant von Professor Kreuer, TU Berlin, Corbusier-Anhänger. Allerdings ist der Paternoster inzwischen verboten, das jeden Amtsbesuch zum Abenteuer machte, und die einst freundlichen Ausstellungsflächen sind nurmehr unfreundliche Wartezonen. Denn das Rathaus ist längst kein Rathaus mehr, das Rathaus ist jetzt in Friedrichshain.

1982  in der Yorckstraße debattierte man gerade über Hausbesetzer  flogen von der Besucherbalustrade Flugblätter, Klorollen und auch die weitaus gewichtigeren Standascher, die bürgerfreundlich überall in den Fluren fürs Publikum aufgestellt waren: Damals durfte man noch öffentlich rauchen. Die CDU alarmierte die Polizei, aber BVV-Vorsteher Michalski, SPD, bestand auf dem Hausrecht und ließ sie nicht rein. Deeskalation war angesagt. In der Folge wurde in den Klos gezündelt, radikale Inschriften an den Toilettentüren häuften sich, bis die stillen Orte eines Tages für die Allgemeinheit gesperrt wurden. Bis heute. Nur noch das Kantinenklo blieb. Dort aber haben sich  und es bleibt zu hoffen, daß die Reinigungsfirma die kleinen Reime nicht so schnell wieder aus der Welt wischt, wie man einst die Mauer mit ihren Sprüchen wieder einriß  einige Kostproben Kreuzberger Lyrik zusammengefunden, die es in sich haben. Es sind die Träume und Phantasien jener, die, während sie auf den Gängen saßen und auf irgendeinen Stempel warteten, plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspürten und den Weg zur Kantine einschlugen.

Und ist der Penis noch so klein,

er kann ein Freudenspender sein.

Lieber Schamlippen küssen als sich lahmschippen müssen.

Wenn eine Frau vor Geilheit schwitzt,

möcht ich der Stuhl sein, auf dem sie sitzt.

Weitere Zitate aus der umfangreichen Sammlung verbietet der Anstand, doch sind die Originale im alten Rathaus nach wie vor nachzulesen. Der Eintritt ist frei.

Dr. Seltsam

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