Kreuzberger Chronik
März 2005 - Ausgabe 65

Herr D.

Herr D. bei einem alten Freund


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. schmerzte das Ohr. Noch am nächsten Tag entschloß er sich, seinem Ohrenarzt einen weiteren Besuch abzustatten. Im Haus traf er die Nachbarin, mit einem schwarzen Schleier vor dem Hut. »Wer ist denn gestorben?« fragte Herr D. »Ach, nur ein alter Freund von mir. Aber irgendwann muß man seine Garderobe ja auch einmal lüften!«
Es war kein guter Tag, die Praxis war überfüllt, es gab kaum noch Sitzplätze, und wer ohne telefonische Anmeldung kam, mußte gleich wieder gehen. »Egal ob Notfall oder nicht. Es gibt auch noch das Krankenhaus«, sagte die erschöpfte Frau am Counter, die dem Andrang nicht standhielt. Herr D. hatte sich angemeldet, weshalb sie ihn nicht wieder heimschicken konnte. Aber er müsse mit einer Wartezeit von zwei Stunden rechnen. Dann sagte sie: »10 Euro bitte!« – »Hals-Nasen-Ohrenärzte scheinen ja eine regelrechte Marktlücke in Kreuzberg zu sein!«, murmelte er und setzte sich in eine stille Ecke, in der Kinder aus Schaumstoff mit Begeisterung meterhohe Türme bauten. Beim Spielen schienen sie sämtliche Ohrenschmerzen sofort zu vergessen. Zaghaft griff auch Herr D. nach den Spielsteinen und hörte erst wieder damit auf, als er bemerkte, wie sämtliche Mütter ihn beobachteten.
Er gestattete sich, nun seinerseits die Mütter zu betrachten, dunkelhäutige, dunkeläugige, in dunkle Gewänder gekleidete Frauen, die plötzlich nervös an den Enden ihrer Kopftücher zu zupfen begannen. Als Herr D. nach Berlin gekommen war, empfand er diese Tücher als exotisch, und sah in ihnen einen multikulturellen Teil des Berliner Stadtbildes. Irgendwann aber hatte er sich an Berlin gewöhnt und fand sie langweilig. Heute wollte er keine Schleier mehr sehen. Vielleicht lag es am Fieber, er sah ohnehin alles verschleiert. Es wurde ihm allmählich zu viel mit den Schleiern, und außerdem fragte er sich, warum diese gesunden Kinder alle vor ihm drankamen, obwohl er hier fast vom Stuhl kippte.
Irgendwann vernahm er aus der Ferne seinen Namen. Wieder begrüßte der Arzt ihn in diesem Tonfall alter Schulfreunde. Wenigstens sprach er nicht im Pluralis Medicinalis und erkundigte sich mit dem üblichen »Na wie geht’s uns denn heute?« nach dem Befinden. Er fragte: »Was führt Sie zu mir?« – Herr D. versuchte, sich das Gesicht des Arztes vorzustellen, wenn er nun begänne, ausführlich von Schmerzen im Knie zu berichten, aber Herr D. war eben nur ein kleiner Beamter und sagte ganz einfach: »Mein Ohr!«
»Haben Sie Fieber?«, fragte der Arzt. – »40«, sagte Herr D. – »Gut«, sagte der Arzt. Herr D. verstand diese Antwort nicht. Der Arzt rückte Herrn D. auf dem Stuhl zurecht, bog den fiebrigen Kopf in die gewünschte Position und sah ohreinwärts. »Verstopft!«, sagte er. – »Was??«, rief Herr D. »Schon wieder? Das hab ich doch gerade für 10 Euro putzen lassen, Herr Doktor.« – »Sie müssen jetzt ganz stillhalten.«
Der Doktor führte den Sauger ins Ohr und begann zu saugen. Trocken! Und Herr D. hielt ganz still. Bis es plötzlich »Flopp« machte. Flopp, als wäre man beim Absaugen des Sofas mit dem Rohr zu nah an das Polster gekommen, das nun zur Hälfte im Staubsauger verschwunden ist. Herr D. zuckte zurück, der Sauger heulte auf.
Der Arzt sagte: »Verdammt!« – Herr D. dachte: »Jetzt hat er mein Trommelfell weggesaugt!« – Der Arzt sagte: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie stillhalten sollen!« – Herr D. dachte: »Jetzt versucht er, mirdie Schuld zu geben!« – Der Arzt sagte: »Das tut sonst weh!« – Herr D.dachte: »Zuerst kam der Sauger, dann kam der Schmerz, und am Schluß zuckte ich. So war das, in genau dieser Reihenfolge!« – Der Arzt fragte: »Warum sagen Sie denn nichts mehr?« – Herr D. sagte: »Mir ist schlecht.«
Als Herr D. endlich wieder auf der Straße stand, ließ das Dröhnen im Ohr langsam nach. Es machte einer großen, unendlichen Stille Platz. Herr D. beschloß, sich die Ohren in Zukunft selbst zu putzen.

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