Kreuzberger Chronik
Juli 2005 - Ausgabe 69

Das Essen

In der Rabenbar


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von Michael Unfried

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Natürlich ist es daheim am schönsten, am Chamissoplatz bei Matto und im Heidelberger Krug. Aber es gibt Tage, da überschreiten auch eingefleischte Stammgäste einmal die Reviergrenze. Mutig überqueren sie die Gneisenaustraße, und dann noch den Landwehrkanal, und schon sind sie mitten drin im berühmtberüchtigten Kreuzberg 36, stehen mit einem Bein schon in Klein-Istanbul, um sich herum das unverständliche Stimmengewusel des Orients. Da sehen sie gleich hinter der Brücke die Rabenbar.

Erleichtert, doch nicht ganz in der Fremde gelandet zu sein, durchqueren sie den kleinen Garten mit der Hollywoodschaukel und betreten die spärlich beleuchtete, in vornehmes Rot getauchte Bar. Drei Männer hocken am Tresen und nuckeln an langen Strohhalmen Saft aus Cocktailgläsern. In einer bequemen und noch etwas dunkleren Ecke schweigt ein junges Paar und küßt sich ausgiebig, diagonal gegenüber sitzen drei Studentinnen der HdK mit Gläsern in der Hand und schweigen nie. Alles ist ein bißchen anders als am Chamissoplatz, nur die Frau hinterm Tresen kommt den Auswanderern bekannt vor.

»Trinkt Ihr gerne Cocktails?« fragt Diana aus dem Heidelberger Krug und versucht, sich an die Namen ihrer alten Stammgäste zu erinnern. Aber es gelingt ihr nicht ganz. »Nee, wir hätten gern ein Bier«, sagen die vom Chamissoplatz, »so wie immer eigentlich!« Diana denkt nach, wahrscheinlich fragt sie sich, warum sie den weiten Weg hierher gekommen sind, wenn sie doch wieder nur das Gleiche wollen.

»Und wo ist es jetzt schöner?«, fragt einer der Auswanderer die alte Bekannte. »Schwer zu sagen«, meint Diana, »aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich eine Nacht im Krug und drei in der Rabenbar arbeiten.« Dann wendet sie sich wieder den drei Männern am Tresen zu, deren Gesamtalter in etwa dem eines der Flüchtlinge vom Chamissoplatz entspricht, und die viel freundlicher lächeln als die aus dem Krug. Auch Diana nuckelt gekonnt an einem Strohhalm, scherzt ein wenig, geht zum Shaker, greift nach verschiedenen Flaschen und gießt ein wenig hiervon, ein wenig davon in den Shaker und schüttelt dann, als hätte sie ein Leben lang nichts anderes gemacht. Als hätte sie niemals Biere getragen.

»Vielleicht sollten wir doch mal einen Cocktail probieren, wo wir schon da sind«, sagt einer der drei Ausreißer vom oberen Kreuzberg zur fremden Diana. Sie studieren die Karte, zehn Seiten lang Cocktails, 160 verschiedene Gebräue aus Gin, Wodka, Brandy, Whiskey, Champagner, Tequila, Rum, berühmte Cocktails wie »Bloody Mary« und »Kir Royal«, aber auch Cocktails mit so poetischen Namen wie »Lady be good or leave it«, »Reifeprüfung«, »Pick me up«, oder »Sex on the beach«.  »Sind das alles Kreationen Deines Chefs?« fragt einer der Einwanderer.  »Ja, Carlo ist Lebensmittelchemiker, und das ist nicht seine erste Bar.«  »Und ein Dichter ist er auch!«  Diana nuckelt und schweigt. Und mixt drei »Orchid Maitai« für die treuen Opas. »Das ist einer der schwierigsten,« sagt sie, »da muß alles auf den Milliliter genau stimmen.«

Jetzt nuckeln auch die Biertrinker am Strohhalm. Sie nuckeln und gstaunen. »Hättest Du ihr das zugetraut?«  »Nö  aber enau deshalb muß man ab und zu mal raus. Damit man mal wieder was Neues sieht.« Da erhebt sich einer der drei jungen Männer am Tresen und reicht ihnen der Reihe nach die Hand. Es ist nicht Carlo, der Cocktailbrauer, sondern es ist der letzte Wirt vom Krug. Auch er ist zu Besuch in der Rabenbar. »Da geht man mal woanders hin, und dann trifft man lauter Bekannte«, sagt einer auf dem Heimweg. »Im Krug hab ich den nie gesehen!«, antwortet ein anderer. »Gehen wir über den Chamissoplatz?«, fragt der Dritte.


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