Kreuzberger Chronik
Februar 2005 - Ausgabe 64

Herr D.

Herr D. - Begegnung der Dritten Art


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. mußte zum Bezirksamt. Ein Botengang. Gutgelaunt stieg er die Treppen hinauf, bis er auf eine Menschentraube stieß. Hier war das Arbeitsamt. Schlechtgelaunte Menschen standen in langen Schlangen vor den Türen. Herr D. sagte »Entschuldigung« und »Darf ich bitte mal durch«. Nach einem Blick der fünfzigköpfigen Schlange auf Herrn D., der hier offensichtlich nichts oder anderes zu suchen hatte als die zukünftigen Sozialhilfeempfänger, öffneten sich widerwillig kleine Spalten in den Menschenketten. Herr D. erinnerte sich der Schlagzeile, die er in der BZ gelesen hatte: »Mann ging mit Axt auf das Arbeitsamt los«. Auch in der Schlange war der wütende Mann nicht in Vergessenheit geraten: »Das war nicht der Letzte, der hier mit der Axt rein is«, prophezeite eine Dame um die Fünfzig. Es war die Verkäuferin von Karstadt, bei der Herr D. sich samstags gelegentlich seine Schokoladentrüffel holte. Sie sagte: »Wenn das hier so weitergeht, bin ich die Nächste, die mit der Axt kommt. Erst steht man sich dreißig Jahre in der Süßwarenabteilung die Beine in den Bauch, und dann steht man für Almosen in der Warteschlange.« Herr D. war froh, als er am Ende des Ganges das Zimmer des Kollegen sah. Da hörte er neben sich eine Stimme. Herr D. blickte in die schwarzen Augen einer schwarz gekleideten, schwarz geschminkten Frau, die mit langen schwarzen Fingernägeln vor seinem Gesicht herumfuchtelte. Herr D. hielt nichts von Begegnungen der dritten Art, aber sie sagte: »Ich habe Sie gestern Nacht gesehen. In meinem Alptraum.« Herr D. bemerkte, wie sich die düsteren Mienen der Umstehenden restlos verfinsterten, als er an allen vorbei ins Zimmer des Kollegen stolperte. Der ließ augenblicklich die Unterlagen sinken, gestikulierte wild mit den Armen und schien in eine verbale Freudensverkündung auszubrechen. Herr D. sah, wie sich die Lippen des Kollegen bewegten, doch der Ton blieb weg. Herr D. überlegte, ob er vielleicht tatsächlich nur eine Figur aus dem Alptraum einer Arbeitslosen war, da hörte er den Kollegen schreien: »Sagen Sie, hör’n Sie schlecht?«Am Nachmittag stand Herr D. selbst in der Schlange. Die Praxis des Hals-Nasen-Ohren-Professors erfreute sich eines regen Besucherverkehrs. Die Sprechstundenhilfe sagte ständig: »Zehn Euro bitte!«, und die Patienten antworteten ständig: »Wie bitte?« – »Zehn Euro Praxisgebühr«, rief die Sprechstundenhilfe in doppelter Lautstärke. Als Herr D. an der Reihe war, legte er wortlos seinen Obolus auf den Tresen. »Na, Sie sind ja noch lernfähig«, sagte die Frau. »Und wo drückt der Schuh?« – »Im Ohr«, sagte Herr D.

Als er endlich das Ordinationszimmer betrat, dessen Wände überdimensionale Plastikohren, Nasengänge und Rachen zierten, und in das strenge Gesicht mit der Lampe auf der Stirn blickte, hatte er das Gefühl, einen großen Zeitsprung rückwärts zu absolvieren. »Wie geht’s?«, fragte der Professor in einem Ton, als hätten sie zusammen hinter den Schulbänken gesessen. »Mein Ohr ist verstopft«, sagte Herr D. Der Professor knipste die Lampe an und bog den Kopf des Herrn D. zur Seite. »Hmm …«, sagte der Professor, »hmm …« und am Ende »tja … also …« Das kleine Herz des Herrn D. begann lautstark zu klopfen. Das war kein guter Tag. Erst seine Trüffelverkäuferin von Karstadt auf dem Arbeitsamt, dann die Frau aus der Gruft und jetzt das! Herr D. wäre nicht überrascht gewesen, wenn der Professor ein gebratenes Hähnchen aus seinem Ohr gezogen und als Ursache der Verstopfung präsentiert hätte. Herr D. sagte: »Putzen Sie jetzt bitte mein Ohr!« Der Professor spülte das Ohr mit warmem Wasser – für zehn Euro. »Können Sie mich jetzt hören?«, fragte er. Herr D. nickte. Und lächelte. Zumindest zum Teil war die Welt jetzt wieder in Ordnung. <br>

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