Kreuzberger Chronik
Dez. 2005/Jan. 2006 - Ausgabe 73

Herr D.

Herr D. und Herr Schröder


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von Hans W. Korfmann

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Es war beim Griechen gewesen, bei Dimokritos, wo Herr D. etwa alle vierzehn Tage seine Portion Souvlaki aß und eigentlich immer jemanden traf, mit dem er sich unterhalten konnte. Wenn tatsächlich einmal gar niemand seiner Bekannten da war, dann unterhielt er sich mit dem Wirt, der seine Wände nicht mit Anthony Quinn oder mit im Hafen schaukelnden Fischerbooten tapeziert hatte, sondern mit einer Mischung aus Maria Callas, Che Guevara und Otto Rehagel. Doch trotz der vielen internationalen Einflüsse war der Wirt Grieche geblieben und sprach am liebsten über Geld, Essen oder Politik. Themen, die auch den Deutschen D. stets interessierten. An diesem Abend aber hatte der Wirt keine Zeit, sich an seinen Tisch zu setzen, das Lokal war voll. Und im Fernseher, der eigentlich wegen eines Fußballspiels lief, zitierte man  in einem dieser, jedes Jahr ein bißchen früher erscheinenden, Jahresrückblicke  noch einmal die bewegenden Abschiedsworte des aus dem Amt scheidenden Kanzlers.

»Na, bin ich froh, daß der weg ist«, sagte Herrn D.s Tischnachbarin, die auch seine Wohnungsnachbarin war, und erzählte etwas von Wirtschaft.

»Ja, aber dafür kommt jetzt Merkel«, sagte ihre Freundin.

»Und selbst, wenn die Merkel es ehrlich meint«, fuhr sie fort: »Im Hintergrund stehen lauter Männer! Und die werden sie ganz schön unter Druck setzen. Schröder war souverän.«

»Aber er hat immer gelogen.«

»Er hat sich geirrt, das ist ein Unterschied ...«

»Er hat sich geirrt und gelogen!«, wollte Herr D. sagen, aber er bestellte stattdessen lieber eine Flasche Retsina. Daß selbst in seinem Stammlokal mit dem Che an der Wand plötzlich so nette Worte über den Kanzler fielen, fand er befremdlich. Obwohl Herr D. ja selbst so etwas wie Mitleid mit dem Kanzler empfand. Dabei hatte er ihn nie gemocht. Schon damals nicht, als er gegen Lafontaine gewann und mit diesem miesen Siegergrinsen auf die Bühne trat. Während Lafontaine neben ihm säuerlich lächelte. Und alle jubelten Schröder zu, sogar die Medien, sogar der Spiegel fand nette Worte für ihn. Aber irgendwann hatte der sogenannte Medienkanzler auch die Medien alle gegen sich.

Bis er dann seinen Hut nahm. Da fanden sie plötzlich wieder versöhnliche Töne. Da strahlten die Sender kleine, nette Porträts über ihn aus, auf denen er nicht aus dem Porsche oder dem VW grinste und winkte, sondern auf Dorffesten mit einfachen Menschen über den Dorfteich sprach, als wäre er der Bürgermeister von Königs Wusterhausen.

Wo man ihn die Hände einfacher Leute schütteln sah, und wo er ganz
ohne Siegerlächeln davon sprach, daß es ihm »bitterer Ernst« sei  eine Redewendung, die der Kanzler in den letzten Monaten seiner Amtszeit immer häufiger gebraucht hatte. Weil die Geschichte mit dem Kanzler tatsächlich bitter und ernst war.

Der Retsina kam, Herr D. hob sein Glas und sagte, um etwas zu sagen: »Beim heiligen Dimokritos: Ich frage mich, ob das noch Demokratie ist! Ob das noch im Sinne des Erfinders ist, wenn man jahrelang Stimmung gegen den Kanzler macht, um dann sozusagen posthum die netten Filme aus der Schublade zu holen.«

»Ja«, sagte die Nachbarin von der CDU, »aber so ist es unserm Franz Josef auch ergangen. Als er lebte, beschimpfte man ihn wegen seiner rüden Reden, und kaum war er gestorben, lobten ihn selbst die SPDler als einen eloquenten Redner mit Charakter.«

Stimmt, dachte Herr D., dieser Strauß war ein Phänomen. Selbst
Ultralinke vermiesten ihn als ihren »liebsten Feind«. Aber konnte an
diesen konservativen Fettsack wirklich mit Schröder vergleichen?

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