Kreuzberger Chronik
September 2004 - Ausgabe 60

Herr D.

Herr D. auf einem Ausflug


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von Hans W. Korfmann

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Auch Herr D. liebte, so wie alle Kreuzberger, die Natur. Zwar war das unmittelbare Umland wenig spektakulär und für Herrn D.s Geschmack etwas zu flach, doch konnte er sowohl der spärlichen Fauna, als auch der Flora etwas abgewinnen. So lobte er, wie alle Kreuzberger, den Beelitzer Spargel, die Gurken aus dem Spreewald und die Äpfel aus Werder. Besonders aber liebte er die Pilze. Die gab es umsonst.

Also begab sich Herr D. eines Samstags mit den Nachbarn Horst und Dietmar auf eine schnurgerade Landstraße. Einige Automobile erreichten eine Spitzengeschwindigkeit von ca. 200 km/h, aber Herr D. trat unverdrossen in die Pedale. Bis Dietmar plötzlich den Arm ausstreckte und rief: »Da ist es, da drüben muß es sein!« Der »Geheimtip« war nicht schwer zu finden, Herr D. und seine Nachbarn waren nicht die einzigen, die an diesem sonnigen Wochenende mit Körbchen auf dem Gepäckträger nach dem Glück suchten. Überall im Wald standen an Bäume gelehnte Fahrräder, durchkämmten Männer und Frauen, Großväter und Großmütter, Hunde und Kinder das Gelände.

Herr D. sagte: »Das sieht ja sehr nach einer Großfahndung aus!« Er wollte vorschlagen, an einem ruhigeren Ort zu suchen, doch seine Nachbarn verschmolzen augenblicklich mit dem Rest der pilzsammelnden Nation. Den Blick auf den Boden geheftet wie lebenslängliche Häftlinge beim Hofgang stolperten sie in den Wald hinein. Herr D. hinterher.

Das Heer der Pilzsucher war eine internationale Truppe: Herr D. hörte Russisch, Polnisch und sogar Türkisch zwischen den deutschen Eichen. Der Großteil der Pilzesucher allerdings war deutscher Natur. »Die aus Polen sind voller Wasser!«, hörte er den Mann mit der Falkenfeder am Hut und dem Gamsbart am Kinn. »Die werden eingeweicht, damit sie schwerer sind! Wie bei uns früher die Kohle!« Ein älterer Herr in ledernen Knickerbockern meinte: »Diese armen Schweine reißen die Pfifferlinge doch schon aus der Erde, bevor sie überhaupt da sind!«

»Na, von irgendwas müssen die ja leben!«, entgegnete Herr D. dem deutschen Pilzesucher. »Immerhin ist das noch ’ne ehrliche Arbeit!« – Der Mann neben ihm blieb stehen und musterte Herrn D. von oben bis unten. »Haben Sie Arbeit gesagt? Pilzesuchen, das ist doch keine Arbeit! Pilzesuchen ist eine Freizeitbeschäftigung! Pilze sucht man am Wochenende, und nicht wie die hier Freitag nachts mit der Taschenlampe! Die lassen einem doch gar nichts mehr übrig, diese Gangster! Glauben Sie, ich hab ein Leben lang hinterm Band gestanden, damit ich dann als Rentner keinen einzigen Pfifferling mehr finde!« – Herr D. begann sich zu ärgern: »Sie meinen, die Pilze seien fester Bestandteil ihrer wohlverdienten Rente? Das ist doch Quatsch! Es gibt keine festen Teile mehr. Hier wackelt alles, vor allem die Rente. Und wenn Sie das noch nicht kapiert haben, dann frag ich mich, wo sie die letzten Jahre gewesen sind!«, sagte Herr D. »Bei Siemens in der Halle.« – »Auch noch ’ne Firmenrente, was,«, rief Herr D., »und sich dann darüber beschweren, daß ein paar Polen und Russen lieber in den Wald gehen und Pilze suchen, als alten Omas die Handtaschen zu klauen, wie solche wie Sie immer behaupten!« Herr D. grüßte und verschwand im Gebüsch.

»Das ist ja wie damals im Krieg!«, sagte er, als Horst und Dietmar endlich wieder auftauchten, »Da waren auch so viele im Wald!« – »Ist doch Krieg!«, sagte Horst. »Und das dicke Ende kommt auch noch!«, sagte Dietmar. <br>

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