Kreuzberger Chronik
September 2004 - Ausgabe 60

Die Geschäfte

Amazonas Zentrum Berlin


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von Jörg Stadler

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Es fing an mit den Guppis. Diesen kleinen, ständig trächtigen Weibchen, die in den deutschen Wohnzimmern der siebziger Jahre millionenfach neben dem Fernseher herumschwammen, und an denen die Kinder des Hauses schon bald das Interesse verloren. Wolfgang Groß verlor das Interesse an der kleinen Unterwasserwelt seiner Freundin nicht. Im Gegenteil. Wenn Wolfgang Groß heute von den Muscheln, Anemonen und Korallen erzählt, dann hört er sich an wie ein habilitierter Meeresbiologe. Und wenn er beginnt, etwas näher auf die Lebensgewohnheiten und die Eigenarten seiner Lieblinge einzugehen, dann zieht es den Zuhörer schnell vom bescheidenen Souterrain in der Großbeerenstraße aufs offene Meer hinaus. Land ist keines mehr in Sicht.

Es begann mit den Guppis. Ihre Vermehrungswut, das quirlige Leben unter Wasser faszinierte ihn. Die Guppis bekamen Gesellschaft von anderen Unterwasserwesen, bis dem angehenden Aquarianer auffiel, daß noch etwas Blau fehlte in seiner Population. Da stieß er auf den Diskus, ein platter, runder, bläulich schimmernder und ziemlich empfindsamer Bewohner des Amazonas. Die ersten beiden Exemplare, die er von einem ominösen Händler kaufte, verabschiedeten sich schon nach wenigen Tagen wieder von ihrem neuen Besitzer. Was den blauen Diskus – ohnehin ein außergewöhnlicher Fisch, denn er ist einer von nur dreien weltweit, der seinen Nachwuchs füttert, indem er die Jungfische an der nahrhaften Schleimschicht über seinen Schuppen schlecken läßt – nur noch interessanter machte. Wolfgang Groß beschloß, den blauen Diskus selbst zu züchten. Was nicht einfach war. Aber Groß hatte Erfolg, und vor neun Jahren hängte er seinen Fleischerkittel endgültig an den Haken. Inzwischen hat sich die Kunde vom Kreuzberger Diskus bis nach Polen und in die Ukraine herumgesprochen.

Doch nicht alles ist blau bei Groß. Neben den Diskus schwimmen buntgeschminkte Doktorfische umher – »Sehen Sie die zwei kleinen Flügel? Da hinten, vor der Schwanzflosse! Die kann er ausfahren, wenn es bedrohlich wird. Scharf wie Skalpelle. Deshalb heißt er Doktorfisch!« – Kaninchenfische, ein paar Schwalbenschwänzchen, Nashornfische und seine Xanthippe, eigentlich Xanturum Zeprasoma. Sie sieht aus, als könne sie kein Wässerchen trüben, schwimmt friedlich zwischen den Mitbewohnern umher, doch der kleine Fisch mit dem grellgelben Schwanz sorgt immer wieder für Streit in der heilen Unterwasserwelt des Wolfgang Groß. Deshalb taufte er sie auf den Namen Xanthippe. Auch Kirby war so ein Unruhestifter. Benannt nach diesem Multifunktionsstaubsauger. Denn Kirby schluckte alles. Bis er selber verschwand.

Der Fischhändler jedenfalls kennt seine Fische, und seine Fische kennen ihn. Sogar die große Mördermuschel. Fünf Jahre ist die Tridacna Squamosa jetzt bei ihm, 150 Liter Wasser fließen am Tag durch sie hindurch. Ein natürlicher Filter. »Wenn ein Fremder mit der Hand nur in ihre Nähe kommt, macht sie dicht. Klappt zu. Aber ich kann sie streicheln! Ich muß sie schon richtig ärgern, bis sie zumacht!« – Die riesige Klappe mit der schmetterlingsartigen, zitternden Membran davor und ihrem kleinen Mund darin, diesem Eingang in die Unterwelt der Unterwelt, sieht nicht ungefährlich aus. »Aber den Namen Mördermuschel hat sie wirklich nicht verdient!« Natürlich kann es passieren, daß ein Perlentaucher, der der Tridagna Gigas zu nahe kommt, in die Falle gerät. Die größte der Mördermuscheln wird in freier Wildbahn immerhin einen Meter lang. Aber sie ist kein Angreifer, sie verteidigt sich nur. Herr Groß krabbelt die Muschel zum Abschied wie eine Katze im Nacken und geht zum nächsten Becken, um eine Anemone aus dem Wasser zu holen.

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Foto: Dieter Peters
Augenblicklich zieht sie die langen Tentakel, die unter Wasser noch wie ein Gewusel unzähliger durchsichtiger, in alle Richtungen greifender Arme war, wieder ein. Anemonen haben nichts mit hübschen Blumen zu tun. Anemonen sind kleine Monster, die in der verborgenen Welt unter Wasser gut aufgehoben sind. Sie erinnern an jene primitiven, zwittrigen Wesen, die, halb Tier, halb Pflanze, die phantastischen Geschichten Lovecrafts bevölkern. Geschichten, die Lesern noch heute den Schlaf rauben. Wolfgang Groß hält nichts von dem Wort »Monstrum«. Groß hält seine Anemone in der Hand und streicht vorsichtig über die kleine Kugel aus Saugnäpfen, die noch übriggeblieben ist von dem zappelnden Unterwasserbusch.

Natürlich, räumt der Aquarianer ein, gibt es auch giftige Anemonen. Sehr giftige sogar. »100 Gramm vom Nesselgift der grünen Krustenanemone – zoanthus spec. – reichen aus, um ganz Kreuzberg zu vernichten. Aber auch sie nesseln nur, wenn sie in Gefahr sind, wenn man ihnen zu nahe kommt. Und die meisten Gifte spüren wir sowieso nicht«, sagt Herr Groß, setzt seine Anemone wieder an ihren Platz und geht zum Handwaschbecken. »Auf jeden Fall muß man sich diese Tentakel so vorstellen wie Raketenabschußbasen. Mit einem Unterschied: Die Tentakel der Anemonen sind schneller. Ihr Abschuß ist die schnellste meßbare Bewegung auf unserem Planeten!«, sagt Groß und trocknet die Hände an einem Handtuch. Auch die Wirkung des Giftes der grünen Krustenanemone ist rekordverdächtig. Es dauert nur Sekunden, bis das menschliche Herz steht.

Der Besucher fühlt sich allmählich etwas unbehaglich: Überall fingern Tentakel herum, saugen die Membranen unersättlicher Muscheln, flattern die großen Trichter riesiger Unterwasserpilze, schleichen grimmige Barsche und mit Dolchen bewaffnete Doktorfische durchs Geäst der Korallen. Auch die hat Groß zu züchten begonnen. Sie sprießen aus leeren Blumentöpfen, die wie alte, von der Flora des Meeres überwachsene Amphoren auf den Böden der Bassins liegen. Manche sehen aus wie blühende Apfelbäume, andere haben nur wenige, blattlose Äste. »Aber auch die!«, sagt Groß, »leben! Jeder Punkt hier auf der Koralle ist ein Tier. Jeder Ast eine Kolonie, und das Ganze ist ein Tierstock. Wie ein Bienenstock. Eine Koralle leidet furchtbar darunter, wenn ein Stück von ihr abbricht!«

Herr Groß kennt sich eben aus in seiner Unterwasserwelt. Er liebt sie und kommt jeden Tag. Die Fische brauchen ihn, »die kennen keinen Sonntag!« Und auch keinen Urlaub. Die Diskus sind empfindlich, die Mördermuschel würde ihn vermissen, Xanthippe braucht seine strenge Hand. Deshalb war er schon lange nicht mehr am Meer. Achtzehn Jahre. Und Tauchen war er noch nie. »Ich glaube, wenn ich einmal abtauche – ich käme nie zurück!«

Groß wäre sowieso am liebsten ein Anemonenfisch. »Für eine Nacht zumindest!« Der Anemonenfisch ist der einzige, den die Anemone an sich heranläßt. Er schläft friedlich zwischen den giftigsten Tentakeln, die ihn die ganze Nacht über freundlich kitzeln. »Das muß kuschelig sein!«, sagt Herr Groß, und sieht plötzlich nicht mehr wie ein Professor, sondern tatsächlich ein wenig verträumt aus.

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