Kreuzberger Chronik
September 2004 - Ausgabe 60

Essen, Trinken, Rauchen

Im Norden


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von Michael Unfried

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Es war heiß im Norden. 30 Grad. Im August.
Im österreichischen Austria gegenüber hatte man geschlossen. Wer hatte bei diesen Temperaturen auch noch Lust auf Serviettenknödel, Schweinebraten und Rindsgulasch.
Im Norden dagegen war der Andrang groß. Draußen, wo ein kühles Lüftchen vom finstren Friedhof herüber durch die Bergmannstraße zog, war kein Tisch mehr frei.

Im Norden gab es Fisch. Montags »Bratheringe satt!«, soviel man essen konnte, für neun Euro. Aber niemand aß Bratheringe. Entweder, weil den unschuldigen Heringen das Stigma der Armut anhaftete, obwohl frische Heringe einem alten Seehecht oder einem ranzigen Wolfsbarsch durchaus vorzuziehen waren. Oder aber, weil alle, die hier waren, sich schon die letzten Montage an Heringen sattgegessen hatten.

Im Norden gab es Fisch aus dem Norden. So wie in der Nordsee auch. Allerdings sollte man der Nordsee mit ihren Fastfischgerichten, den billigen Kartoffelsalaten und den mickrigen Pommes Frites doch lieber aus dem Weg gehen. Das geschmackvollste an den Nordseeimbissen sind die Fotos der Fischteller. Das schönste Foto im Norden hängt auf dem Weg zur Toilette und ist eine Luftaufnahme der kleinen Inseln mit den einprägsamen Namen und ihren strahlend weißen Sandstreifen im blauen Meer. Sie sahen nicht so aus, als lägen sie irgendwo zwischen Hamburg und Amsterdam. Sie sahen aus, als lägen sie in der Karibik.

»Labskaus, i heard about that before, must be something like Krautsalat …«, sagte der eine Amerikaner zum anderen. Am Nebentisch saßen einige Sportjournalisten und zogen über die Morgenpost, über die Olympischen Spiele und über das fettige Essen in Griechenland her. »Furchtbar! Ich frage mich nur, wie die noch schwimmen können, diese Griechen!« – »Fett schwimmt oben!«, sagte einer der Journalisten.

»Zweimal Labskaus bitte!«, sagte der Amerikaner zur Wirtin. Falls es die Wirtin war. »Mit viel Labs, höhöhö! Und zwei Jever!« Die Wirtin notierte, verschwand in der Küche und erschien wenig später mit zwei gigantischen Tellern Seemannssalat für die Journalistinnen. »Mein Gott, das sind ja Berge! Da komme ich doch morgen nicht mehr durch den Plötzensee!«, sagte die Blonde, die mit ihrer Nachbarin eigentlich gerade einige Intimitäten über BHs ausgetauscht hatte, während die Männer über amerikanische Leichtathleten fachsimpelten.

Die Amerikaner staunten, als der legendäre Labskaus kam. Fleisch und Fisch und Gurken und Rote Beete in nicht unbeträchtlichen Mengen. »What is this?«, fragten sie die Wirtin. »Gepökeltes, gekochtes Rindfleisch, Matjes, Rote Beete und Gurken!«, sagte die Wirtin. »Oder einfach: Labskaus! Das essen die Leute bei uns im Norden! Noch ein Jever dazu?« – »Yes please!«, sagten die Amerikaner.

Die männlichen Journalisten bekamen nun ihre Pfifferlinge. Pfifferlinge sind keine Fische, aber auch im Norden wachsen Pfifferlinge. Die Journalisten und die Journalistinnen sprachen auch während des Essens. Die Amerikaner am Nebentisch dagegen wurden still, kauten skeptisch auf dem Matjes, trauten dem gepökelten Fleisch nicht. Aber sie aßen die Teller brav leer. Und die Nacht wurde immer kühler.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«, fragte die Wirtin die Journalisten. »Sehr gut, wirklich sehr gut!«, meinten die Männer mit den Pfifferlingen. »Nur ein kleines bißchen zu viel!«, ergänzten die Journalistinnen.
»Und Ihnen?«, fragte die Wirtin die Amerikaner. »The best Labskaus I ever had!«, sagte der Amerikaner. <br>

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