Kreuzberger Chronik
November 2004 - Ausgabe 62

Die Geschichte

Fußball hinterm Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Es gibt ihn noch heute: den Streit zwischen jenen, die mit Decken ausgerüstet auf die Parkwiesen ziehen, um zu picknicken oder in der Sonne zu liegen, und den Horden wildgewordener Fußballspieler, deren Geschosse nicht selten weit übers netzlose Ziel hinausfliegen. Selbst auf dem gigantischen Tempelhofer Feld, das sich von der Schwiebusser Straße bis zur Ringbahn erstreckte, fanden die Fußballer um 1880 kaum Platz zum Spiel. Denn Fußballplätze gab es keine, und die Hasenheide war von den Turnern belegt, denen es um körperliche Züchtigung ging und die das Spiel mit dem Ball als Kampfsport rügten. Fußball, diese »Engländerei«, hatte mit der »Deutschtümelei« der brav turnenden Herren Jahn und Friesen und ihrem Deutschen Bund im Dusteren Keller nichts zu tun.

Doch einige Jahre später war der Dustere Keller an der Bergmannstraße das Vereinslokal des BFC Preussen und die Geburtsstätte des Verbands Deutscher Ballspielvereine, dem heutigen Berliner Fußballverband (BFV). Die Hetze der Turner gegen die »undeutsche Fußlümmelei« und das »Fußstauchspiel« hatte den Siegeszug des Volkssports nicht aufhalten können.

Unterstützt wurden sie vom Garnisonskommandanten der »Kaiserin Augusta Kaserne«, der den ersten Fußballvereinen, die auf dem Tempelhofer Feld ihr Wesen trieben, offizielle Genehmigungen zum Spielen an Sonntagen erteilte. Die Repressalien durch die Berliner Picknickgrüppchen ließen nach, allerdings betraten viele der jungen Spieler das Feld nur noch mit angeklebten Bärten, da das unsittliche Spiel in den Bildungsanstalten nicht gerne gesehen wurde. Oberlehrer und Professoren drohten bei anhaltender Fußlümmelei mit der Herabsetzung von Prüfungsnoten. Karl Planck, ein »tintenklecksendes Säkulum«, wetterte in einem Aufsatz »über Stauchballspiel und englische Krankheit« und hielt nicht nur »die Errungenschaft englischen Aftersports, sondern auch das Fußballspiel« für »gemein, hässlich und widernatürlich.«

Kreuzberger Fussball
Die Wirte in der Fidicinstraße sahen die Dinge anders und machten ihre Lokale in der Nähe des großen Rasens am Stadtrand allmählich zu lukrativen Vereinslokalen. »Fast in jeder Gastwirtschaft, Kneipe oder Budike in den Straßen Fidicin-, Friesen-, Katzbach- bis hinunter zur Bergmann- und Kreuzbergstraße« fanden die Spieler »Zuflucht und Umkleidemöglichkeit. […] Die Umkleidelokale waren überall ähnlich, ein Thekenraum, dahinter ein langgezogener Gastraum, dann das unvermeidliche Billardzimmer, der eigentliche Umkleideraum. Seine Fenster gingen nach dem Hof, mindestens 22 Stühle an den Wänden, Kleiderhaken und ein alter Kasernenschrank mit Bällen, Flickzeug usw … – Nichts eignete sich besser zum Kleiderablegen als ein abgedeckter Billardtisch.«* Vater Gruschwitz, in dem heute Georgos vom Z Souvlaki und Fische grillt, war eines der wichtigsten Lokale, im Keller gab es Waschgelegenheiten und Platz für Pfosten, Latten, Fähnchen und die Gießkannen mit heißem Wasser, das die Sportler benötigten, um im Winter ihre Pfosten ins gefrorene Tempelhofer Feld rammen zu können. Das heutige Tabularasa hieß um die Jahrhundertwende noch Akuß und war das Lokal des Berliner Thor- und Fußballclub Victoria 1889, dessen Spieler auch auf dem Feld die Krawatte nicht ablegten und fünfmal Deutscher Meister wurden – was heute keine Statistik mehr erwähnt.

Der Höhenflug der Victorianer endete erst, als ein Spieler der »Preußen« nach England fuhr und begeisterte Briefe aus dem Mutterland des Fußballs sendete. Die Engländer beherrschten sogenannte »Flachpässe«, bei denen die Bälle quer übers Feld flogen und nicht in Richtung Tor zielten. Außerdem konnten die Engländer bereits den Ball »stoppen«. Die Berichte des Agenten veränderten das Spiel der Preußen, und schon im kommenden Jahr siegten sie über die favorisierten Victorianer mit 91:10. Doch auch, wenn die bis dahin üblichen steilen und hohen Schüsse in Richtung des Tores nun schnell als »althochdeutsch« verspottet wurden: Die Deutschen hatten den Fußball nicht erfunden. Als Walter Wendemann, der spätere Gründer der Fachzeitschrift »Kicker«, 1899 inBerlin ein Länderspiel arrangierte, erlitten die heimischen Kicker im Hin- und auch im Rückspiel schmerzhafte Niederlagen. Sie verloren mit 2:13 bzw. 2:10 gegen die Auswahl aus England.

Dennoch erfreute sich das Spiel immer größerer Beliebtheit. 1905 betrat Kronprinz Wilhelm als erstes Mitglied der kaiserlichen Familie den Germania-Sportplatz, der am Rande des Tempelhofer Feldes errichtet worden war. Er hatte eine halbe Stunde eingeplant, doch blieb er bis zum Schlußpfiff und stiftete einen ersten Pokal. 1910 schließlich wurde durch einen Militär-Turnerlaß das Fußballspiel in die Ausbildungspläne der Armee aufgenommen – das Militär erhoffte sich die körperliche Ertüchtigung seiner Soldaten. Vereine sprossen nun wie Pilze aus dem Boden, Stadien wurden gebaut, Regeln festgelegt. Die Zeiten, als die Kapitäne, damals »Spielkaiser« genannt, mit den Schiedsrichtern während des Spiels die Regeln ausdiskutierten, als man eine Halbzeit lang »Association-Football«, also Fußball ohne Aufheben des Balles, und in der zweiten mit einem eierförmigen Geschoß »Rugby-Football« spielte, wobei die Spieler sich den Ball vor den Bauch klemmten und losstürmten, waren in den zwanziger Jahren endgültig vorüber. Das Handspiel wurde verboten, und das Spiel mit dem Ball wurde zur beliebtesten Sportart der Deutschen.

So siegten am Ende nicht die zivilisierten Turnväter aus der Hasenheide, sondern die rauhbeinigen Fußballer vom Tempelhofer Feld. Und wenn alle zwei Jahre die besten Fußballer Europas oder der Welt aufeinandertreffen, dann gibt es für die Erben des Berliner Thor- und Fußballclub Victoria 1889 in den Kneipen in der Fidicin-, der Friesen- oder der Bergmannstraße bis heute nur ein Thema: Fußball.

Werner von Westhafen

*(Fritz Gaedicke, Vom Tempelhofer Feld nach Schmargendorf. Erinnerungen an die Jünglingsjahre von Britannia 92 bis zum Namenswechsel, in: 75 Jahre Berliner Sport-Verein 92 e.V., S. 14.) <br>

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