Kreuzberger Chronik
November 2004 - Ausgabe 62

Essen, Trinken, Rauchen

Spazio


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von Ernst Niemann

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Es regnet in Strömen. Ein Mann sucht Zuflucht in der nächstoffenen Tür. »Junger Mann?«

Der junge Mann ist eigentlich schon etwas älter. Er steht vor der Vitrine und betrachtet die verschiedenen Salamibaguettes, Käsebrötchen, Croissants. Man sieht dieses Angebot eigentlich überall. Aber hier sieht es so aus, als wäre alles echt. Als zerfielen die Backwaren nicht augenblicklich zu Staub, sobald man sie berührt. Als hätte man das Brot gerade von einem Bäcker in Genua, und die Salami vom Markt in Mailand geholt.

»Einen Espresso und ein Croissant, bitte! Bringen Sie das an den Tisch?«
»Wenn Sie sofort bezahlen, können Sie’s auch sofort mitnehmen!« – »Hm!«, denkt der nicht mehr ganz junge Kunde, und eine nicht mehr ganz junge FAZ-Leserin am Tisch neben der Theke meint: »Haben Sie das gehört? Wenn Sie gleich bezahlen, dürfen Sie’s selber zum Tisch tragen. Wenn Sie nicht bezahlen, bringt er’s Ihnen! Ich würde nicht bezahlen!«
»Sie zahlen jetzt – und ich bring’s Ihnen trotzdem an den Tisch!«, schaltet sich der Mann hinterm Tresen wieder ins Gespräch ein. Nun schlendert der Gast durch den langen, hellen Raum – Boden, Tische, Stühle: alles ist aus einem Holz. So wie in den Achtzigern, als Ikea die Wohnzimmer eroberte.
»Kann man bei Ihnen eigentlich auch richtig essen?« Die Frau mit der Schürze versteht ihn nicht. Sie sagt: »Noch einmal, bitte?« Dann antwortet sie mit einem sonnigen, italienischen Akzent. Der ältere Mann fühlt sich jetzt etwas jünger.

Er blättert in der Karte. »Sagen Sie, wie ist denn der Wein?« , fragt er, als die Kellnerin in seiner Nähe ist. Eigentlich fragt er nur, um noch einmal diesen sonnigen Akzent zu hören. Wieder lächelt sie verständnislos. Wunderbar, denkt er, und fühlt sich noch etwas jünger. Ich muß unbedingt wieder einmal nach Italien fahren. »Können Sie mir einen Wein empfehlen?«, wiederholt er. Die Kellnerin nickt. Er könne ja kosten. »Vorne, im Geschäft«, sagt sie. »Im Geschäft?«, fragt der Gast. »Ja, da vorne!«, sagt sie und lächelt ein wenig mitleidig.

Der merkwürdige Herr steht auf und befindet sich plötzlich in einem italienischen Laden. Vor einem großen, gelben Kühlschrank, dick wie ein Panzerschrank, mit zwei gläsernen Gucklöchern. »Noch vom Vater des Chefs, aus Italien«, sagt sie. Alles hier kommt aus Italien: die Nudeln, die Polentapackung mit der dicken Mama drauf, die eingelegten Kapern, Oliven, Tomaten, Zwiebeln, die Kaffeebohnen, die Kakaobohnen, die Pralinen. Und diese Käse, dieser kleine Laib Peccorino, ganz ohne Wachshülle oder Plastikverpackung, wie aus dem vergammelten Regal einer alten Käserei. Phantastisch! Als er sich umdreht, sieht er die Faßböden in der Wand. Die Preise sind mit Kreide aufs Holz geschrieben: Merlot, Rosso, Cabernet … – Als er sich wieder umdreht, fällt sein Blick ins tiefausgeschnittene Dekolleté der Italienerin und bleibt dort haften.

»Wissen Sie, junge Frau« stottert er, »Sie werden das nicht verstehen, aber ich bin ja ein ganz anderer Jahrgang als Sie. Ich bin ja jedes Jahr nach Italien in den Urlaub gefahren, vor vierzig Jahren, jedes Jahr …«
»Du mußt ein Problem haben!«, sagt die schöne Frau, zieht etwas Stoff über ihren Busen und dreht sich um. Mit einem Mal fühlt er sich wieder so alt, wie er ist. Und Italien ist auch wieder weit weg.

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