Kreuzberger Chronik
Juni 2004 - Ausgabe 58

Die Geschichte

Erich Mühsam in Kreuzberg


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von Dr. Seltsam

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Weihnachten 1924 war für Erich Mühsam ein »Kaspar-Hauser-Erlebnis«, wie er selbst es einmal formulierte. Eine Art Wiedergeburt, eine zweite Chance. Nach fünf Jahren Festungshaft in Bayern wurde Mühsam vorzeitig nach Berlin entlassen. Sein Empfang am Anhalter Bahnhof gehört zu den größten Momenten seines Lebens.

Auch der 6. und der 7. November 1918 waren bedeutende Tage im Leben des Erich Mühsam. Auf der Theresienwiese in München finden Demonstrationen mit hunderttausenden Kriegsgegnern statt. Unter ihnen auch Erich Mühsam. Doch er wird schon bald erkannt und von einer Gruppe Soldaten gekapert, um in einer Kaserne zu reden. Die Besatzung stellt sich unter sein Kommando und ein immer größer werdender Zug von Anhängern zieht von Kaserne zu Kaserne, um binnen weniger Stunden die bewaffnete Macht zu übernehmen. Vereinzelt wird geschossen, und Mühsam erweist sich als mutiger Organisator. Am Abend ist der König gestürzt und dampft ab ins Exil.

Erich M?hsam
Die SPD-Führung aber entpuppt sich als Verräter: Während sie im Arbeiter- und Soldatenrat als Bremser mitmacht, organisieren die Minister von Bamberg aus den Gegenangriff mit preußischen Truppen, von Minister Noske aus Berlin ermutigt. (»Einer muß der Bluthund sein.«) Die »Literatenrepublik« scheut den »Roten Terror« und wird wenig später dafür von der Soldateska brutal abgeschlachtet. Für 10 Tote auf preußischer Seite rollen 1000 revolutionäre Köpfe. Mühsam entgeht nur zufällig dem Massenmord, weil sie ihn bereits einige Tage vor ihrem Einmarsch aus seinem Bett heraus verhaftet und heimlich auf die Feste Ebrach entführt haben. In einem Schauprozeß wird Mühsam verurteilt und soll bis zum Jahre 1935 eingesperrt bleiben. Da ist er längst tot…

Doch 1923 putschen die Nazis in München, und um Hitler freizubekommen, erläßt die Regierung zum Jahresende eine Generalamnestie für politische Verbrecher: Am Abend kommt Mühsam am Anhalter Bahnhof in Berlin an und wird von einer begeisterten Menschenmasse durch die Stadt getragen. Der Bericht der Kripo Kreuzberg vermerkt, daß sich alle Revolutionäre zuvor brav mit einer gültigen Bahnsteigkarte versehen haben!





(aus: Hirte, Mühsam-Biografie 1985)

Der Tonfall und die sprachliche Unbeholfenheit des Protokolls erinnern an die Berichte des Polizeisprechers vom 1. Mai 80 Jahre später. Auch da sind die Beamten stets gezwungen, sich mit Hiebwaffen der Angriffe einer singenden, feiernden Menge zu erwehren, und die offizielle Begründung des Schlagstockeinsatzes lautete damals wie heute: Der Anhalter Bahnhof liegt in der Bannmeile. Die Erinnerungen der damals 14-jährigen Hilde Radusch aber zeichnen ein anderes Bild von den Geschehnissen auf dem Bahnhof. Im Unterschied zum offiziellen Bericht, nach dem niemand verletzt wurde, beschreibt die Beobachterin den Einsatz der Gummiknüppel nicht als defensiv, sondern als aggressiv:
»Als Erich Mühsam 1924 entlassen wurde, hatte der Kommunistische Jugendverband beschlossen, ihn vom Anhalter Bahnhof abzuholen. Aber das war verboten. Mühsam kam gegen Abend an und die verschiedenen Abteilungen marschierten im geordneten Laufschritt von allen Seiten zum Bahnhof. Die Schöneberger Jugend von der Kleinbeerenstraße zur Ostseite, und dann setzte die Polizei Gummiknüppel ein. Wir wurden, in Achterreihen stehend, immer weiter zurückgedrängt; von der Ankunft Erich Mühsams haben wir nichts erlebt. Ich erinnere mich nur an den Dauerlauf, der mir sehr beschwerlich war und ein Schupo blieb in meinem Gedächtnis haften, weil er immer nach den Augen des in der Reihe vor mir marschierenden bzw. zurückweichenden Werner Jurr schlug. Der Haß in den blitzenden Augen des jungen Mannes zwang ihn einfach dazu.« (Brief 1974 europ. Ideen 5/6)
»…die jungen Arbeiter waren in die Ankunftshalle eingedrungen. Sie hoben Mühsam, der sichtlich leidend neben seiner Frau dem Zug entstieg, auf ihre Schultern. Wilhelm Pieck setzte zu einer Rede an; Mühsam, mit Tränen kämpfend, dankte den Genossen. Jemand stimmte die Internationale an. In diesem Augenblick stürmten die Behelmten die Ansammlung um Erich Mühsam. Gummiknüppel, Schreie, Püffe. Beherzte Männer bildeten eine Kette um den Dichter, brachten ihn zum Ausgang. Inzwischen hatte die Polizei begonnen, den Platz vor dem Bahnhof zu räumen. Den flüchtenden Demonstranten jagten die Berittenen auf der Königgrätzer Straße nach bis zum Halleschen Tor. Es gab Verwundete, Verhaftete.« (Bruno Frei, »Die anarchistische Utopie«)

So empfing das glitzernde Berlin der roaring twenties den Revolutionär Erich Mühsam. Er aber war nicht bereit, um des Erfolges im Amüsierbetrieb willen die in dunklen Zellen schmorenden Gefangenen zu vergessen und widmete seine praktische Tätigkeit der Roten Hilfe. Fast im Alleingang hatte Erich Mühsam die 800 Jahre alte Wittelsbacher Dynastie gestürzt und damit das feudale Deutschland für immer begraben. Das konnte ihm das konservative Bayern niemals verzeihen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß ausgerechnet süddeutsche SS-Truppen aus Dachau ihn fünfzehn Jahre später im KZ Oranienburg umbringen.

Vor genau siebzig Jahren, am 9. Juli 1934 wurde Erich Mühsam abends von der SS-Wache zum Stiefelputzen herausgerufen, am nächsten Morgen fanden ihn die Gefangenen erhängt in der Latrine.
Zum Gedenken an den »gütigen Propheten« Erich Mühsam veranstaltet die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen am 10. Juli 2004 um 17 Uhr in Oranienburg eine historische Stunde. <br>

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