Kreuzberger Chronik
Dez. 2004/Jan. 2005 - Ausgabe 63

Herr D.

Herr D. und die Zopfträger


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von Hans W. Korfmann

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Es gab Dinge, die konnte sich Herr D. nur sehr schwer vorstellen. Zum Beispiel, daß sein Außenminister oder sein Bundeskanzler früher einmal Jimi Hendrix gehört hatten. Star spangled banner zum Beispiel.
Herr D. hatte diesen Hendrix, der seine Fender auf der Bühne zertrümmerte, nie für einen großen Musiker gehalten. Erst in Berlin, wo Hendrix noch immer allgegenwärtig war, hatte er genauer hingehört. Dennoch zog es ihn in diese Ausstellung: »Stromgitarren«. Im Laufschritt nahm er die Treppe, da hielt ihn jemand am Ärmel fest: »Ihre Eintrittskarte bitte.«
Herr D. kramte in seinen Jacken- und Hosentaschen, sechs an der Zahl. Vergeblich. »Ich muß sie verloren haben!« Der Mann mit dem Gesicht eines Straßenbahnschaffners aus den Fünfzigern nickte und sagte: »Das sagen sie alle!«. Er sah ihn an, als hätte sich der Tertianer D. beim Schulfest ohne Eintrittskarte einschleichen wollen.
»Ich habe sie doch gerade eben gekauft. Sie können unten nachfragen!«
»Kann ich nicht. Ich darf hier nicht weg. Sie können höchstens unten fragen, ob ihnen die Dame noch eine zweite Eintrittskarte geben kann.«
Die Dame am Schalter schüttelte den Kopf. »Die müßte ich ja aus eigener Tasche bezahlen!«, meinte sie entrüstet. Herr D. scharrte mit den Füßen. »Sie müssen deshalb nicht gleich das Parkett zerkratzen!«, sagte die Kassiererin und behandelte ihn wie einen Quintaner. Da sah er die Eintrittskarte auf dem Boden liegen. »Na sehen Sie!«, empfing ihn der veraltete Kontrolleur und lächelte ihn an wie einen Sextaner.
»Entschuldigung«, sagte Herr D., der auf seinem Gang entlang der Schaukästen beinahe einen Besucher umgetreten hatte, der auf dem Boden vor Hendrix� Vitrine kniete. Zuerst glaubte er, der Mann wolle dem Toten seine Ehrerbietung erweisen. Dann erkannte er, daß der Fan nur versuchte, einen Text zu entziffern. Der Lesende antwortete nicht, er hatte Kopfhörer auf den Ohren und hölzerne Clogs an den Füßen. Die langen Haare hatte er zu einem silbergrauen Zopf gebunden. Herr D. mochte diese Zopfträger nicht, diese gepflegten Altachtundsechziger, die mit karierten Pantoffeln im Sessel saßen und immer die gleichen Platten hörten. Genau so, wie Hendrix es gesagt hatte: »Wenn ich sterbe, spielt einfach meine Platten.«
Herr D. begann sich zu langweilen. Er lief an dem Proberaum mit Eierkartons, leeren Bierflaschen, vollen Aschenbechern mit Marlboro- und Jointstummeln vorüber, warf im Vorbeigehen noch einen Blick auf Gitarren in Känguruhformat, rosarote Herzen, schwarze Totenköpfe und viele Frauenkörper, lief im Laufschritt durch den Raum, wo gleich drei Zopfträger mit Kopfhörern auf Stühlen saßen und verschiedene E-Gitarren ausprobierten. Aber dann plötzlich hörte er wieder diese unverkennbare Gitarrenstimme, und als er sich umsah, sah er Jimi. Jimi, der gerade auf die Bühne kam. Und noch während er mit seinem Bassisten sprach, flogen diese Finger mit traumwandlerischer Sicherheit über die Saiten. Es sah aus, als hätten diese Finger und diese Gitarre sich verselbständigt, als führten sie ein Eigenleben.
Wie oft hatte er das gehört, Star spangled banner, und jetzt sah er das Bild zum Ton. Aber das Bild paßte nicht zum Ton, ebensowenig wie die Kulisse aus Müll und Schlamm und dreihundert Fans, die noch geblieben waren an diesem verregneten Montag in Woodstock. Auch Herr D. blieb, er blieb 70 Minuten lang, bis Hendrix seine Gitarre zum Gruß hochhob und hinter der Bühne verschwand. Da bemerkte Herr D. die vier Zopfträger, die ihn anlächelten. Und Herr D. lächelte zurück. Nicht jeder Mythos, dachte er, ist nur ein Mythos.

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