Kreuzberger Chronik
September 2003 - Ausgabe 50

Strassen, Häuser, Höfe

Die Tempelherrenstraße


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von Michaela Prinzinger

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Mit berechtigtem Stolz dürfen wir anmerken, daß herausragende Mitarbeiter der Kreuzberger Chronik in unerschöpflichem Wissensdrang ihr Scherflein zur Erforschung der Kulturgeschichte unseres Bezirks beitragen. Wo, wenn nicht in dieser Jubiläums-Chronik, wäre der Ort für eine eingehende Würdigung der Erkenntnisse unserer Autoren, die als Hobbyhistoriker und Amateure im besten Sinne eine bahnbrechende Erneuerung des »Mythos Kreuzberg« anregen. Die neuesten Forschungen von Michael Unfried und Werner von Westhafen, die kürzlich ihre Liebe zu mittelalterlichen Ritterorden entdeckt haben, werfen ein gänzlich neues Licht auf die Herkunft des Ortsnamens »Kreuzberg«.

Unfried dokumentiert in seinem fundierten Artikel in der Quartalsschrift Monastisches Leben sämtliche Kreuzberg betreffenden Quellen aus der Geschichte des christlichen Ritterordens der Tempelherren. Bereits Bernhard von Clairvaux, der Begründer, habe in seiner Schrift De laude novae militiae den Berg Moriah, den sogenannten Tempelberg von Jerusalem, erwähnt, wo Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte. Auf demselben Berg soll der Prophet Mohammed in den Himmel entrückt worden sein, weshalb dort die Muslime ein Heiligtum, den Felsendom, errichteten. Der Templerorden definierte seinen Hauptsitz im irdischen wie auch im himmlischen Jerusalem.

In einem kühnen Zirkelschluß formuliert Unfried nun die These, die Liegenschaften der Tempelhofer Berge seien im Besitz der Tempelritter gewesen, die erwiesenermaßen zwischen 1190 und 1200 am Nordrand des Teltower Höhenzuges eine Ordenskomturei angelegt hätten, in deren Schutz Bauern in der Folge das Angerdorf Tempelhof gründeten. Die höchste Erhebung der Tempelhofer Berge, der Kreuzberg, habe seinen Namen nach dem roten, achtspitzigen Kreuz auf dem weißen wallenden Gewand der Tempelritter erhalten. Dies könne durch Funde mittelalterlicher bildlicher Darstellungen auf Kirchencodices, die im Märkischen Museum einzusehen sind, überzeugend nachgewiesen werden. Auf diesen Schriftstücken sei zweifelsfrei das Kreuz der Templer zu erkennen, das als Briefsiegel verwendet wurde. In einem der Codices sei sogar von der Grundsteinlegung eines Klosters, von einem templum crucifixum im Bereich der Tempelhofer Berge die Rede. Bislang konnten, trotz intensiver archäologischer Prüfung, jedoch keine Nachweise für diese Angaben erbracht werden.

Unfried wagt, durch seine fortgesetzten Studien zur Historie Kreuzbergs ermuntert, rein auf der spekulativen Kraft des Fiktiven fußend, folgende These: In den Jahren 1200-1210 sei auf dem Gipfel des heutigen Kreuzbergs das Kernstück einer gewaltigen Klosteranlage entstanden. Die Templer, sowohl für die Mystik des Orients als auch die des Okzidents aufgeschlossen, hätten eine Fusion abend- und morgenländischer Spiritualität angestrebt, indem sie – dem Tempelberg in Jerusalem gleich – eine Stätte zum Studium beider geistigen Welten ins Leben rufen wollten. Die Templer seien, als Financiers der Kreuzzüge und als Kreuzritter, in engen Kontakt mit dem Orient gekommen. Zwar sei der Kampf gegen die Ungläubigen und die Rückeroberung der Heiligen Stätten ihr ursprüngliches Ziel gewesen, doch habe die Berührung mit dem Morgenland ihr Weltbild grundlegend verändert. Das sei auch die Ursache für den späteren Schauprozeß gegen den Orden gewesen, der Anfang des 14. Jahrhunderts der Ketzerei angeklagt wurde.

In dieselbe Kerbe schlägt Werner von Westhafen mit seinem erhellenden ideengeschichtlichen Beitrag in der von der verdienten Mittelalterforscherin Walburga Wohlleben edierten Festschrift zum 875. Gründungstag des Templerordens. Er sieht in dieser frühen Verschmelzung von Ost und West, von Christentum und Islam einen Vorläufer des Multikulti-Gedankens der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Tempelherren seien Bernhard von Clairvaux’ Allegorie Jerusalems als Hauptstadt der drei monotheistischen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – treu geblieben. Die Klosteranlage auf dem Kreuzberg sei vermutlich zwischen 1307, als in einer Nacht- und Nebelaktion alle Templer in Frankreich verhaftet wurden, und 1312, dem Jahr der endgültigen Aufhebung des Ordens durch den Papst, dem Erdboden gleichgemacht worden. Reaktionäre Kräfte im Umfeld des französischen Königs und des Papstes hätten die damalige ideologische Avantgarde vernichtet. Westhafen versteigt sich sogar zu der Annahme, das Symbol A der Autonomen sei eine versteckte Anspielung auf das Templer-Kreuz und untermauere die historische Tiefendimension anarchischen Denkens durch die Jahrhunderte in unserem Bezirk, was auch die quasi religiöse Wirkung politischer Betätigung, Unterstützung der Entrechteten und Armen dieser Welt bis hin zur Globalisierungskritik erkläre.

Tatsache ist, daß beide Autoren neue Aspekte der Geschichte des Templerordens beleuchten und eine interessante Verknüpfung zur Lokalhistorie Kreuzbergs anregen. Inwieweit diese Thesen Bestand haben, wird die Stadtarchäologie zu untersuchen haben. Am bemerkenswertesten scheint das spurlose Verschwinden der besagten Klosteranlage zu sein. Hatte sich das Kernstück seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts denn gar nicht weiter vergrößert? Handelte es sich etwa gar um ein Undercover-Kloster, das nach außen beispielsweise den Eindruck einer bewehrten Festung machte und innen Meditation und Gebet Raum bot? Man weiß, daß die Tempelherren einer der reichsten Orden waren. Daher scheint die Frage der Finanzierung weniger kompliziert zu beantworten. Allenthalben wurden den Soldatenmönchen Lehen dargeboten, in der Hoffnung auf einen respektablen Platz im Jenseits, was im mittelalter-lichen Denken von überdimensionaler Wichtigkeit war. Steckten hinter den Geldgebern des Tempels auf dem Kreuzberg gar dunkle islamische Mächte, die eine Unterhöhlung des Christentums anstrebten? War der Orden der Tempelherren nur die äußerliche Fassade einer Sekte, die weitaus radikaler war, als das Denken des Mittelalters erlaubte? Die Christentum und Islam verschmelzen wollte und daran scheiterte?

Das Geheimnis des plötzlichen Endes der Tempelherren und des Verschwindens des ominösen Klosters auf dem Kreuzberg wird wohl niemals vollständig gelüftet werden. Doch wenn man dem Prinzip der Wiederholung in der Geschichte der Menschheit Glauben schenkt, dann kann es kein Zufall sein, daß gerade Kreuzberg zum Lebensmittelpunkt muslimischer Einwanderer wurde, die durch die Aura des verschollenen Tempels magisch angezogen wurden und Kreuzberg als modernen melting pot der Kulturen erst möglich machten. Jedenfalls ist, so legen diese Veröffentlichungen nahe, unser Bezirk ab ovo eine Begegnungsstätte von Morgen- und Abendland gewesen.

Literatur: Michael Unfried, Neueste Erkenntnisse zur Herkunftsbezeichnung Berlin-Kreuzberg, in: Monastisches Leben XX, Heft 3, Sommer 2003, 24-48. Werner von Westhafen, Prolegomena zur Geschichte der Nova Militia auf dem Kreuzberg, in: Miles et monachus, ed. Walburga Wohlleben et alii, Festschrift zum 875. Jahrestag der Gründung des Templerordens, Eichstätt 2003, 156-174. <br>

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