Kreuzberger Chronik
Mai 2003 - Ausgabe 47

Strassen, Häuser, Höfe

Friedrich-Stampfer-Straße


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von Jürgen Jacobi

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Hinter fast jeder Partei stecken in der Regel einige kluge Köpfe. Zweifellos muß der Sozialdemokrat Friedrich Stampfer, im vorletzten Jahrhundert, am 8. September 1874, geboren, als ein solcher gelten. Er hat, wie wenige andere, über Jahrzehnte hinweg die Parteilinie beeinflußt. Schon während seines Studiums der Volkswirtschaft und der Staatswissenschaften in Wien und Leipzig schließt er sich einer sozialdemokratischen Studentenorganisation an. Mit 26 Jahren ist er Redakteur der Leipziger Volkszeitung und ab 1903 Mitarbeiter des SPD-Zentralorgans Vorwärts.

Außerdem gibt er innerhalb der Partei von 1903-1926 eine täglich erscheinende Privatkorrespondenz heraus. 1919 veröffentlicht er »Religion ist Privatsache«. Es ist eine 48 Seiten umfassende, geschliffen scharfe Erläuterung zum gleichlautenden Punkt im »Erfurter Programm« der SPD. Stampfer hält fest: »Der Sozialismus ist sich dessen bewußt, dass er nur im Streit gegen die Kirche werden konnte, was er ist.«

Gleichwohl tritt neben seinen Einsatz für demokratische Reformen eine revisionistische, vaterländische Grundhaltung zum Ersten Weltkrieg. Konsequenterweise tritt Stampfer auch seinen Militärdienst in der k.u.k.-Armee an.
1919 ist er dann Mitglied der deutschen Delegation bei den Friedensverhandlungen von Versailles und tritt aus Protest gegen deren Ergebnis vom Posten des Chefredakteurs beim Vorwärts zurück. Von 1920-1933 ist er Mitglied des Reichstages. Es ist die Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus und der strategischen Geplänkel. Handgreifliche Auseinandersetzungen finden sowohl zwischen den linken Parteien untereinander als auch mit den Nazis statt. Es ist diese Uneinigkeit der demokratischen Parteien, die nach Meinung vieler Historiker der Weimarer Republik zum Verhängnis wurde.

Friedrich Stampfer und der Parteivorstand der SPD versuchen aus diesem Grund zumindest zeitweilig ein Defensivbündnis mit den Kommunisten. Stampfer hat 1932 Kontakte zur Botschaft der Sowjetunion, und im Februar 1933, sozusagen um fünf nach zwölf, ergeht ein Appell zu einem Nichtangriffsabkommen an die KPD, allerdings vergeblich. Der Futterneid im linken Lager übersieht den braunen Wolf vor den Stalltoren.

Am 24. März 1933 stemmt sich die SPD in einem allerletzten Aufbäumen gegen das Ermächtigungsgesetz. Das Gesetz der Weimarer Republik, ursprünglich als Schutz der demokratischen Verfassung in Notlagen gedacht, eröffnet Hitler makabererweise den Weg in die Diktatur.

Wer von den führenden Köpfen der deutschen Linken noch nicht inhaftiert oder im Untergrund ist, geht ins Exil. Friedrich Stampfer wählt das Exil in Prag und gehört bis 1940 dem dort gegründeten Exil-Parteivorstand an. Stampfer und andere PV-Mitglieder treffen sich mit den Kommunisten Pieck, Ulbricht und Dahlem mit dem gemeinsamen Ziel, einen Nichtangriffspakt zu schließen. Die einzig verbindliche Absprache und Zusammenarbeit erfolgt jedoch nur auf dem Gebiet der gemeinsamen Spitzelbekämpfung.

Stampfer, der 1919 aus Protest seinen Posten beim Vorwärts niedergelegt hatte, wird in Prag zum Chefredakteur des Neuen Vorwärts, der nach einer Intervention der Nazis seit 1937 nicht mehr öffentlich verkauft werden darf. Als sich abzeichnet, daß auch die politische Betätigung des Exilparteivorstandes bald verboten sein wird, verlegt dieser seinen Sitz nach Paris. Der Neue Vorwärts wird dort weiter gedruckt.

Von Paris aus nutzt Stampfer seine Kontakte zu englischen und amerikanischen Gewerkschaftsführern. Er nimmt an Treffen britischer und französischer Politiker teil, um strukturelle Hilfe im Untergrundkampf gegen das Dritte Reich anzubieten. Neben dem Auftreiben von finanziellen Mitteln geht es den Widerständlern vor allem darum, mittels der einflußreichen Gewerkschaften Einfluß auf die Nachkriegspläne der Siegermächte zu nehmen. Nach der Besetzung Frankreichs und dem Waffenstillstandsabkommen ist das Land über Nacht jedoch zu einer Falle geworden.

Stampfer ist nicht nur ein wichtiger Kopf der Exil-SPD, sondern er ist zudem jüdischer Abstammung. Stampfer wird zwangsinterniert, erhält aber durch die Intervention des Jewish Labour Committee bei Roosevelt ein Visum für die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Entlassung aus der Zwangshaft bedeutet jedoch noch lange nicht die Freiheit, da sich das Vichy-Regime weigert, ihm eine Ausreiseerlaubnis auszustellen. Also wählt Stampfer den illegalen Weg über die Pyrenäen nach Portugal. Die Flucht gelingt ihm wie Tausenden anderer Flüchtlinge nur mit Hilfe der amerikanischen Flüchtlingsorganisationen. Im Oktober 1940 in New York angekommen, widmet auch er sich der Rettung sozialdemokratischer Flüchtlinge aus Südfrankreich, beschafft die nötigen Visa und Geldmittel.

Schon seit 1942 versucht er als Mitglied der von ihm mitgegründeten Gewerkschaft GLD (German Labour Delegation) konkreten Einfluß auf die Nachkriegsordnung in Deutschland zu nehmen. Die Hoffnungen Stampfers auf ein souveränes Deutschland innerhalb der Grenzen von 1933 schienen nicht zu hoch gegriffen. Denn bereits 1941 legen die anglo-amerikanischen Führer im 1. Artikel der Atlantic Charter fest, daß ihre Länder keine Bereicherung, weder in territorialer noch in anderer Hinsicht, anstreben wollen.

Doch schon im Januar 1943, noch zwei lange Jahre vor dem wirklichen Ende des Krieges, ist auch dieser Traum ausgeträumt. Churchill und Roosevelt legen bei einem Treffen in Casablanca die absolute Kapitulation fest. Doch damit nicht genug: Zum Entsetzen Stampfers entwirft der amerikanische Finanzminister Morgenthau den nach ihm benannten Plan, Deutschland in ein reines Agrarland umzuwandeln. Die moralische Rechtfertigung liefert unter anderen Lord Vansittard vom englischen Foreign Office. Als Zeichen einer moralischen Umorientierung hält dieser einen kollektiven Kniefall Deutschlands für unerläßlich.

Friedrich Stampfer tritt der These von Kollektivschuld und dem Märchen des speziellen deutschen Volkscharakters mit Vehemenz entgegen. Vansittard und seinem geforderten Kniefall hält er am 14. Oktober 1944 in der Neuen Volkszeitung entgegen: »Alle? Alle? – Auch die Deutschen in Dachau und Buchenwald? – Auch die Erschossenen, Geköpften, Gehängten? – Die Verjagten, Ausgebürgerten? – Alle, die Göring wie ein Hetzwild gejagt hat? – Keiner, der mit ihm auf die Jagd gegangen ist? – Keiner der Herren vom Foreign Office? Auf die Knie, wir? Nach Ihnen, Lord Vansittard, nach Ihnen!«

Den Mut, derart unverhohlen Kritik auch an den Siegermächten zu üben, haben im Nachkriegsdeutschland außer Friedrich Stampfer nur wenige Politiker bewiesen. Dennoch scheidet er aus dem politischen Leben aus. 1948 folgt Friedrich Stampfer einem Ruf der Akademie für Arbeit nach Frankfurt am Main und lehrt bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1955 wieder seine alten Studienfächer: Volkswirtschaft und Staatswissenschaften. Friedrich Stampfer stirbt am 1. Dezember 1957 in Kronberg, im Taunus. <br>

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