Kreuzberger Chronik
Mai 2003 - Ausgabe 47

Die Freizeit

Boule am Zickenplatz


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von Ernst Mailander

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Sie kommen am späteren Nachmittag. So wie damals, als sie alle noch Arbeit hatten. Sie setzen sich auf die Bänke oder das Mäuerchen des Spielplatzes, sie beugen sich zu fünft über ein Fahrrad und inspizieren und kommentieren das Tretlager. Sie sind alle verschiedener Meinung, reden laut, und für jene, die kein Kroatisch verstehen, hört es sich an, als stritten sie.

Dabei warten sie nur. Sie können noch nicht anfangen. Obwohl Boule eine jener Sportarten ist, bei der man kein Sportfeld und keine Geräte, keine Schläger und Netze braucht. Alles, was der Mensch zum Boulespielen braucht, ist ein halbwegs ebenes Stück Erde. Und ein paar Kugeln. Auf die warten sie nun. Denn von den zehn Männern, die da in Anoraks und alten Anzugjacken herumstehen, hat keiner eine Kugel mitgebracht.

Dann aber kommen sie, die Platzhirsche. Junge Männer, ausgerüstet mit einem schweren Armeerucksack, Turnschuhen und Schirmmützen gegen die Sonne, auf denen steht: Deutscher Meister 96. Und stille, alte Männer mit Hüten und ernsten Gesichtern, etwas bucklig und wackelig schon in den hohen Stiefeln. Aber Männer, die das Gefühl der schweren Kugel in der hohlen Hand schon viele Jahre kennen. Und auf der Bank steht schon die Trophäe: eine Flasche Wein. Gewinnen wird sie das Team, das zuerst 16 Punkte erreicht. Eine Stunde etwa wird das Spiel dauern.

Acht Männer stehen nun bereit, zwei Gruppen zu jeweils vier Personen. Der Deutsche Meister hat sich die weißen Lederhandschuhe übergezogen, einer von der Reservebank den Zollstock gezückt. Und endlich rollt sie, die weiße Kugel, um die sich alles dreht, das Zentralgestirn. Wer ihr am nächsten kommt, gewinnt den Punkt. Einen der sechzehn Siegerpunkte.

Karikatur Boule-Spieler
Zeichnung: Nikolaos Topp
Doch jeder dieser Punkte zählt. Schon beim ersten Durchgang erregen sich die Gemüter, als befände man sich im Finale. Dreißig Männer stehen diskutierend um die Kugeln, der Zollstock wird zu Rate gezogen, am Ende entscheidet ein einziger Zentimeter. Und wieder gehen sie in die federnden Knie wie die Kegler, lassen die Kugeln sicher aus der Hand rollen. Doch die laufen nicht schnurgerade wie auf der Kegelbahn, die suchen sich ihren eigenen Weg, schlängeln sich durch die kleinen, unsichtbaren Unebenheiten auf der Erdbahn und ändern plötzlich ihre Richtung. Erst diejenigen, die zum Schluß an die Reihe kommen, erahnen, wo sich eine Mulde befindet oder wo sich eine winzige Bodenwelle erhebt und den Lauf der Kugel bremst.

Dennoch kommen ihre Kugeln manchmal keine Handbreit neben dem Ziel zum Stillstand. Dann wird es für die anderen einfacher. Denn dann spielt die Geschwindigkeit keine Rolle mehr, dann kennen sie nur noch ein Ziel: Dazwischen zu fahren und die Kugeln möglichst weit auseinander zu sprengen. Immer, wenn das gelingt, lachen vier Männer laut auf.

Auch die Kinder vom Spielplatz nebenan haben ihren Spaß. Sie kommen angerannt und kreuzen die Bahn der Boule-Spieler mit Rädern und Bällen, hüpfen vor den rollenden Kugeln hin und her. Bis einer der Männer ruft: »Du verdammter Arsch mit Ohren, machst du jetzt, daß du wegkommst!« – Ach, diese Kinder, sie verstehen eben noch nichts vom Ernst des Lebens.

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