Kreuzberger Chronik
März 2003 - Ausgabe 45

Herr D.

Herr D. und der Krieg


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. stand, wie so oft, am Rand und sah zu. Er war eigentlich in Eile gewesen, aber dann blieb er doch und las die Transparente, sah wieder einmal erstaunt diese vielen Menschen, die auf die Straße gingen. Es war etwas anderes, von Tausenden zu lesen, oder Tausende zu sehen.
D. war nur ein kleiner Beamter, er hätte ebensogut auf dem Finanzamt arbeiten können wie im Auswärtigen. In die große Politik mischte er sich nicht ein. Aber angesichts der Demonstranten fragte er sich, ob auch eine Regierung in Bonn den Mut zu einem so klaren »Nein« zum Krieg gefunden hätte, ob es nicht vielleicht diese vielen, jeden Montag auf die Straße gehenden Berliner gewesen waren, die am Ende das Zünglein an der Waage gespielt hatten. Herr D. entschied: Berlin war der bessere Ort für Politik als Bonn. Und D. erinnerte sich an einen Abend im September 1990:
Er war zu Besuch in Berlin, in einem Bezirk, der sich Wedding nannte, und der so überhaupt nicht hochzeitlich aussah. Der Wedding, erklärte ihm der Bekannte, sei das Schmuddelkind von Berlin, einst ein Arbeiterbezirk, ein Ort des Widerstandes, und noch heute einer der ärmsten der Stadt. Nur Widerstand regte sich keiner mehr. Es lag eine Art Lethargie über dem Viertel, das einzige, was sich bewegte, waren die Spielautomaten und die Billardkugeln. Auch im »Sterlitz«, der Stammkneipe des Bekannten, rollten die Kugeln. Sogar der Wirt spielte, und als er mit breitem Grinsen die beiden Geldscheine einstrich, die am Rand des Tisches lagen, sah er Gerd Fröbe beunruhigend ähnlich. Danach aber stand Ilja friedlich hinter dem Tresen. Wenn D. bestellte, nickte er stumm, schob mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo im Niemandsland zwischen Heulen und Lächeln lag, das Bier über den Tresen und drehte wieder am Radio herum.
Den ganzen Abend über lief Musik aus dem Radio, aber der Lärm der Gäste war lauter. Bis Ilja plötzlich mit seiner Hundertkilomannstimme »Ruhe!« rief. Alle verstummten. Der Nachrichtensprecher erzählte etwas von einem Krieg, der unmittelbar bevorstünde. Als nach den Nachrichten die Musik einsetzte, drehte Ilja wieder leiser.

Auch im Lokal wurde es leiser. Dann, ganz langsam, wieder lauter. Es war Entrüstung und Betroffenheit, die sich allmählich breitmachte. In diesem Lokal irgendwo im Wedding, in dem sie sonst nur tranken und spielten, in diesem Viertel, über dem eine undurchdringliche Lethargie lag. Die Amerikaner hatten es geschafft. Sie hatten sie wachgerüttelt. Sogar die Weddinger. Plötzlich standen alle da und diskutieren, keine einzige Kugel rollte mehr. Und jedesmal, wenn die neuesten Meldungen die Musik unterbrachen, drehte Ilja lauter. Und alle hörten schweigend zu.

Gegen zwei oder drei Uhr morgens war es dann so weit: Die ersten Bomben fielen, der Wüstensturm begann sein Werk der Zerstörung. Worte wie »Schweine«, »Mörder«, »Imperialisten« schwirrten durch den Raum, nur Ilja hinter seinem Tresen blieb stumm. Aber dann plötzlich rief er: »Ihr seid Idioten, wißt ihr das eigentlich? Immer sind die Amerikaner Schuld! Wißt ihr eigentlich nicht, was diese Amerikaner hier in Berlin alles für euch getan haben! Was sie für uns Juden getan haben? Wißt ihr das eigentlich?«
Ilja war böse. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Aber die Diskussion ging weiter, im Wedding, der so selten aus seiner Lethargie erwacht, die ganze Nacht, während im Irak die ersten Bomben fielen. Vor zehn Jahren.

Und deshalb, dachte Herr D., der noch immer an seinem Straßenrand stand und dem Zug der Friedensdemonstration zusah, deshalb ist diese Stadt die richtige Stadt.

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