Kreuzberger Chronik
Juni 2003 - Ausgabe 48

Die Reportage

Vom Kaufrausch zum Tauschrausch


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von Hans W. Korfmann
Fotos: Michael Hughes


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Einst reihte sich in den Häusern ein Laden neben den anderen, gegenüber dem Urbankrankenhaus herrschte Leben – mit Apotheken, Blumenläden, Bäckern, verschiedensten Geschäften. Jetzt sind die alten Holzläden alle heruntergelassen, an jedem zweiten hängt ein Zettel: Zu vermieten. Nur einige dunkle Kneipen haben sich halten können, selbst das Gesicht des Bestattungsunternehmers in der Urbanstraße blickt finster vom Schreibtisch herüber.


Nur in der Nummer 21, in dem alten Offizierskasino, bewegt sich noch etwas. Denn aus dem Haus der stolzen Uniformträger und geschlossenen Gesellschaften ist das Nachbarschaftshaus Urbanstraße geworden, in dem sich Seniorinnen und Senioren beim Tanz vergnügen. Und in dem sich der Kreuzberger Tauschring trifft. Über dreihundert Mitglieder zählt der nicht eingetragene Verein. Der vorzivilisatorische Tauschhandel scheint in den euroarmen Zeiten seine Renaissance zu erleben.

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»Als wir den Tauschring gründeten«, erzählt Klara Brendle, diplomierte Volkswirtin und eine der Gründerinnen des Kreuzberger Ringes, »taten wir das noch aus ideologischen Gründen. Die meisten, die zu uns kamen, waren politisch engagiert, beschäftigten sich mit Ökonomie und Marktwirtschaft und diskutierten Kennedy’s Buch vom Geld ohne Zinsen und Inflation. Doch in letzter Zeit kommen keine Intellektuellen mehr. Jetzt kommen Leute, für die der Tauschring ein Rettungsring geworden ist.«

Denn im Tauschring braucht man keine Euro. Man zahlt mit Zeit und Arbeit. »Wobei es keine Unterschiede gibt, ob einer Computer repariert oder Fenster putzt!« Der Wert der Arbeit wird in »Lebenszeit« gemessen, also in Arbeitsstunden. »Wenn jemand zum Beispiel Rückenschmerzen hat, sich aber keine Massagen leisten kann, dann findet er hier mit Sicherheit einen sachkundigen Masseur.« Einen, der auf dem freien Markt keine Arbeitsstelle gefunden hat, genau wie der Mann mit den Rückenschmerzen. Der Masseur wiederum braucht einen Handwerker für sein Bad! So wird man sich einig. Tauscht die Arbeit. Das ist das simple Prinzip.

»Die Idee ist ja uralt!«, sagt Klara Brendle. Dennoch wurden die sonst so pfiffigen Kreuzberger erst auf die geldlose Alternative aufmerksam, als sie auf einem Kongreß zum Thema »Wirtschaft von Unten« von 400 englischen »Local Exchange & Trading Systems« hörten. Am 27. Februar 1995 zogen sie nach und gründeten den ersten Berliner Tauschring. Inzwischen sind es 26 geworden in der Stadt, und acht Jahre nach der Gründung konnten die Kreuzberger eine erste und erstaunliche Bilanz ziehen: Seit 1995 wurden 3715 Tauschaktionen im Gegenwert von 49209 Arbeitsstunden verbucht. Was einem Umsatz von 1000200 sogenannten Kreuzern entsprach. Mit diesen Zahlen gingen sie im Jubiläumsmonat an die Öffentlichkeit, und das Interesse der Medien »war ganz erfreulich«. 1 Million Kreuzer! Das roch nach Kapital!

Und nach Schummelei. Denn auch wenn sich die Tauschhändler von Pfund, Dollar und Euro verabschiedet hatten: Ganz ohne Währung ging es offensichtlich nicht! Wozu sonst hat man diese Kreuzer in den Umlauf bringen müssen. Haben sie nicht dem bösen Kind nur einen anderen Namen gegeben? Und stand nicht heimlich die alte DM Modell für den Kreuzberger Kreuzer? Im Grunde läßt er sich jederzeit umrechnen: Eine Arbeitsstunde entspricht nämlich etwa 20 Kreuzern oder 20 ehemaligen DM, denn allen Mitgliedern wird nahegelegt, eine Stunde Arbeitszeit mit jeweils 20 Kreuzern zu berechnen.

Dennoch ist der Kreuzer keine Währung im üblichen Sinn. Er ist im Grunde eine Zeiteinheit. Zeit aber ist begrenzt und läßt sich nicht vermehren. Also lassen sich auch Kreuzer nicht zu Kapital anhäufen. Kreuzer existieren auch nicht als Münze oder Geldschein, sondern lediglich auf einem Konto. Schecks zum Transfer vom einen Konto zum anderen gibt es in der Welt der Kreuzer nicht, sondern lediglich eine sogenannte Tauschmitteilung. Darauf steht »40 Kreuzer für 2 Massagen à 1 Stunde«. Oder »4 Kreuzer für Abdichtung des Klosettabflusses«.

Auch bei der Handhabung dieser Konten verhält sich die Tauschringverwaltung anders als die branchenüblichen Banken. Zwar können auch die Kreuzberger ins Minus rutschen, wenn sie mehr Dienste in Anspruch genommen als geleistet haben. Und bei einem Minus von mehr als 500 Kreuzern wird auch im Tauschring die Sache kritisch. Doch die »Kreuzberger Bank« droht nicht mit Kündigung und bestraft mit Zinsen, sondern ermahnt zum baldigen Ausgleich, indem sie dem Handwerker nahelegt, er möge doch bitte noch einige Bäder reparieren, um ein paar Kreuzer auf sein Konto zu transferieren. Es gäbe da Bedarf beim Mitglied Nr. 375. So vermittelt die Bank dem ins Defizit gerutschten Kontoinhaber Arbeit. Denn die findet sich eigentlich immer in der Welt der Kreuzer.

Noch deutlicher unterscheidet sich die »Kreuzberger Bank« von der Deutschen Bank bei jenen Kontoinhabern, die zu viele der Kreuzer auf dem Konto haben. Denn während die Deutsche Bank Geldbesitzer mit Zinsen belohnt und sich die Hände reibt, runzeln die Kreuzberger schon bei einem Plus von 1000 Kreuzern die Stirn. Angestrebt wird ein gesundes und »ausgeglichenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen«. Nur dann funktioniert die Inselwirtschaft. Aus diesem Grund sind die Kontostände sämtlicher Mitglieder »innerhalb des Tauschringes öffentlich«, und all jene, die zu weit ins Plus oder Minus gerutscht sind, werden in der monatlich erscheinenden Zeitschrift unter der Rubrik »Patschenhelfer« aufgelistet. Damit jeder im Kreis die Möglichkeit hat, zur Regulierung beizutragen. Und damit auch jeder weiß, mit wem er da eigentlich handelt.

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Schließlich könnten auch im Kreuzberger Wirtschaftsbiotop schwarze Schafe weiden. Denn jeder, der dem Kreis beitritt, erhält das »Scheckbuch« mit den »Tausch-Mitteilungen«. Und damit einen Kredit von 500 Kreuzern. Der Kreuzer ist eben keine bare Münze, die man hin- und herschieben könnte. Man bezahlt mit dem auf der Tauschmitteilung festgehaltenen Versprechen einer gleichwertigen Gegenleistung. Das System beruht auf einer Vertrauensbasis, zu viele schwarze Schafe würden es kollabieren lassen. Es funktioniert nur im kleinen, überschaubaren Kreis.

»Aber wir werden immer mehr«, meint eine junge Frau. »Irgendwann gibt es nur noch Kreuzer in Kreuzberg! Dann sind wir wirklich mal autonom!« Sie meint das nicht besonders ernst. Doch argwöhnische Politiker beäugten den Tauschring schon im Januar 1997 und stellten die Frage, ob dieser Ring nicht ein blühender Handel für Schwarzarbeit sei. »Solange sich hier niemand bereichert – und das verhindert ja das 1000 Kreuzer-Plus-Limit«, sagt Klara Brendle, »kann man den Vorwurf der Schwarzarbeit nicht aufrechthalten. Wenn man seiner Nachbarin den Rasen mäht und dafür einen Kuchen bekommt, dann ist das noch keine Schwarzarbeit.« Dennoch wurde die kleine Anfrage der Abgeordneten Andrea Fischer bzgl. der Legitimität des Tauschringes im Deutschen Bundestag vorsichtshalber nur mit einer Billigung, und nicht mit einer grundsätzlichen Genehmigung beantwortet: So lange das alles im Rahmen der Nachbarschaftshilfe laufe, habe man keine Bedenken.

»Aber man muß sich das eben mal vorstellen«, sagt ein anderer Tauschringler. »Halb Kreuzberg mit seinen Arbeitslosen hat kein Geld mehr, und allmählich bildet sich so etwas wie eine Subgesellschaft, mit einem eigenen Markt und ihrer eigenen Währung. Und keiner von denen zahlt Steuern! Dann hätten die ein echtes Problem.«

Aber das haben sie eh schon, meint Klara Brendle. »Denn das Miles & More der Fluggesellschaften, die Karstadt-Geldkarte, das Rabattmarkensystem …, das ist im Grunde alles schon Privatgeld!« Geld, das nur in einem begrenzten System gilt. Wenn dieses begrenzte System sich ausweitet, es da nicht mehr nur Flugreisen gibt, sondern eben alles, was der Mensch zum Leben braucht – wie etwa bei Karstadt – dann wird es kritisch für den Euro und den Eichel.

Aber so weit ist es noch nicht. Bis jetzt gibt es auf dem Kreuzberger Tauschmarkt nur Kaffee und Kuchen für den Kreuzer. Die 30 Seiten der internen Monatszeitschrift mit dem schönen Namen Strassenkreuzer, auf denen die 300 Mitglieder ihre Dienste und Tauschwaren anbieten, überraschen mit Erstaunlichem, aber längst nicht allem Lebensnotwendigen. Die Inserate lauten: »1 mexikanischer Strohhut (8 KR) – Tonbierkrug mit Abbildung Römer Frankfurt (15 Kr) – Original Blusen von der Deutschen Post (7 Kr) – Apfelessigkapseln 60 Stck. à 500 mg (Neupreis 4 Euro, 8 Kr) – Großes Heiligenlexikon, Leben und Wirken von mehr als 500 Heiligen (15 Kr) – Gieße Blumen und führe Hunde aus – Tarotberatung zu speziellen Lebensthemen – Spanisch lernen – Fahrradflicken – oder Hilfe beim Verfassen von Bewerbungen, für jene, die die Welt der Kreuzer wieder verlassen wollen! Das bislang kurioseste Angebot war der »Christusgenerator«, eine Eigenkonstruktion frei nach Reichs Orgongenerator.

Auch an dem jeweils letzten Sonntag des Monats, wenn im großen Saal des ehemaligen Offizierskasinos die Tauschringler ihre Tische aufbauen und statt im Kaufrausch im »Tauschrausch« zu verkreuzerndes Hab und Gut ausbreiten, wenn sie draußen auf der Terrasse und im Garten miteinander ins Gespräch kommen, in erste Handelsbeziehungen treten und am Ende vielleicht sogar in ziemlich persönliche Beziehungen, wenn Männer und Frauen mit sanften Blicken von der wundersamen Heilkraft einer unbekannten fernöstlichen Therapie berichten, wenn diese ganzen netten Menschen den Flohmarkt des Tauschringes bevölkern, dann wird auch dem energischsten Verfassungsschützer klar, daß diese Unterwelt nur eine friedliche Insel im Meer des Euro ist.

»Ohne Moos geht’s los!«, heißt es im Informationsblatt der Kreuzberger Tauschinitiative mit dem Rettungsring in ihrem Logo. Und ob nun Apfelessigkapseln oder Christusgeneratoren über den Ladentisch gehen, ob ein Handwerker das Bad fliest oder ein anderer Hunde ausführt, das spielt nicht einmal in der Welt des Euro eine Rolle. Hauptsache der Kreuzer rollt. <br>

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