Kreuzberger Chronik
Februar 2003 - Ausgabe 44

Beatrice Frings Kreuzberger
Beatrice Frings, Sekretärin

»Ein bißchen Abenteuer muß sein!«


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Michael Hughes

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Sie fährt einen heißen Stiefel, sie holt aus ihrer lahmen Kiste heraus, was sie hergibt. Auf der Bergmannstraße schert sie aus wie ein Formel-1-Bolide aus dem Windschatten, befindet sich plötzlich auf der Gegenfahrbahn, und alle, die ihr entgegenkommen, weichen zur Seite aus. Sie wirft den Kopf mit den langen, silberblonden Haaren zurück und lacht. »Ein bißchen Abenteuer muß schon sein!«

Schließlich wollte sie einmal Rennläuferin werden. Alle Jungen und Mädchen in Kitzbühel wollten das, Toni Sailer war der strahlende Held der Nation. Die Bergbauernkinder waren die Schnellsten, die kamen morgens mit den Skiern in die Schule gefahren, sprangen über die noch winzige, eingeschneite Straße, die sich in zahllosen Kurven den Berg hinaufschlängelte. Trixi kam nicht von da oben, sie wohnte unten im Dorf. Aber sie war eine Kämpfernatur. Eine Draufgängerin, aber mit Gefühl in den Beinen für die Unebenheiten der Piste. Wenn am Festtag die Großen endlich alle im Ziel waren, dann stürzte auch sie sich mit dem Kitzbüheler Nachwuchs den Berg hinunter. »Natürlich waren wir nicht so schnell. Die Großen waren in drei oder vier Minuten unten. Wir brauchten eine Viertelstunde, und wir trauten uns nur die letzten hundert Meter in die Hocke. Aber wir fuhren die Streif runter – und das war eben schon damals eine Legende, die Streif.«

Trixi konnte kämpfen, und nach ihrem dritten Platz beim Schülerrennen wollte man sie in den Kitzbüheler Nachwuchskader aufnehmen. Auch Trixi wollte in die Mannschaft. Die Laufbahn jener, die dort trainieren durften, konnte so steil sein wie die Streif. Doch die Mutter entschied, daß Buchstaben und Zahlen wichtiger waren für ein junges Mädchen im Dorf der heranwachsenden Hotels. Denn auch Trixis Mutter besaß eines dieser Häuser, in denen keine Kühe mehr im Stall standen, sondern Urlauber aus aller Welt nächtigten. Heute gehört ein Teil dieses Hotels ihrer Tochter. Doch die lebt seit 30 Jahren in Berlin. Sie kommt nur noch einmal im Jahr. Im Sommer, für wenige Tage. Obwohl sie das Rennen schon gerne einmal wieder miterleben würde.

»Aber es ist eben deprimierend, wenn man die andern wie Pfeile vorbeischießen sieht und selbst schon wieder im Pflug die Anfängerpisten runterrutscht.« Das letzte Mal, als sie auf den Skiern stand, 1988 war das, und in den Schnee stürzte, kam sie nicht einmal mehr hoch. Da mußte ihr jemand aufhelfen. So wacklig waren ihr die Beine geworden. »Das war das Schlimmste überhaupt!« Seitdem hat sie nicht mehr auf diesen Brettern gestanden, die für die Kitzbüheler die Welt bedeuten. Seitdem sieht sie sich das aus der Ferne an, von ihrem Liegesessel aus, jedes Rennen, das übertragen wird. Und versucht, nachts davon zu träumen, wie das war, auf den verschneiten Hängen über dem Ort, mit den Skiern unter den Füßen.

Skifahren
Foto: Privat
Eine Kämpferin aber ist Trixi, die mit zehn Jahren die Berge verlassen mußte, um in München in einem Klosterinternat für bessere Töchter zur Schule zu gehen, bis heute geblieben. »Die Alpen waren plötzlich sehr, sehr weit weg«, und der »Orden der Englischen Fräulein« war ein Gefängnis. So wuchs der Geist des Widerspruchs in ihr heran. Kaum kam sie aus dem Internat frei, ging sie auf die Straße und demonstrierte gegen den Parteitag der NPD in München. Und wanderte wegen des Widerstands gegen die Staatsgewalt zuerst einmal für drei Wochen in Untersuchungshaft. Trat in den Hungerstreik, nahm 7 Kilo ab. »Was mir nicht schadete! Ich war ganz schön pummelig geworden in der Stadt!« Doch nach drei Wochen war sie wieder frei. Man hatte eine Unterschriftenliste für die »Freilassung von Trixi Holzmüller« herumgehen lassen, und es unterschrieben viele. Das Spektrum der Linken war groß, sogar der Name eines bekannten Schlagerstars stand auf der Liste: Udo Jürgens.

Das Mädchen aus Kitzbühel kämpfte nicht mehr auf der Skipiste, sondern auf dem Asphalt. Sie hat die Spur verlassen, schwimmt gegen den Strom. Auf Demonstrationen steht sie auch als Fünfzigjährige noch an vorderster Front. Sie hat immer ihre Meinung gesagt. Wer die Streif runterfährt, hat keine Angst mehr. Irgendwann in den Siebzigern, als sie in Kitzbühel zu Besuch war, nahm sie der Vater beiseite und fragte: »Sag mal, hast du was mit der RAF zu tun?« Die Fahnder des Staatsschutzes waren auf der Suche nach Mittelsmännern bis in den noblen Skiort vorgedrungen und hatten der Familie Holzmüller einen Besuch abgestattet. Vielleicht, weil die Tochter dabei gewesen war, als Sympathisanten Rolf Pohle aus dem Gefängnis abholten, dessen Mutter sie kannte, »eine ganz liebe Frau«. Vielleicht auch nur, weil man bemerkt hatte, daß dieses Mädchen es ernst meinte. Daß sie den Kampf und den Widerspruch liebte. Sie sagt es bis heute: »Man braucht einen richtigen Feind. Sonst ist das Leben langweilig.« Und ein anderes mal sagt sie: »Ich muß herummotzen! Und wenn ich dann merke, daß die Mehrheit dagegen ist, dann weiß ich, daß ich Recht habe!«

Doch hat sie nicht nur auf der Straße um das Recht gekämpft. Zwanzig Jahre saß sie als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei und machte ihrem Chef das Leben schwer, wenn sie sich hartnäckig weigerte, die Korrespondenz mit einem Mandanten zu übernehmen, der dummerweise Vermieter, und nicht Mieter war. Auch in der offiziellen Politik hat sie ihren Platz gehabt: Anfang der Achtziger gehörte sie dem Frauenvorstand der Alternativen Liste an, saß neben einer Frau, die heute Landwirtschaftsministerin ist. Karriere machte. Sie hatte immer eine gute Startposition. Aber sie hatte eigentlich nur einmal wirklich Karriere machen wollen: als Rennläuferin.

Deshalb hat sie die Diskussionspodien und die Bühnen der Politik auch wieder verlassen. Im Grunde war die Alternative Liste nichts für eine Frau, die in gerader Linie durchs Ziel schießen und nicht im Slalomlauf durch die Instanzen enden wollte. Die Alternativen waren ihr nicht alternativ genug. Sie wurden allmählich sozialdemokratisch. Und »Sozialdemokraten sind mir zuwider!«. Es paßte auch irgendwie nicht zusammen, einerseits für die Partei zu arbeiten, im Grunde aber die Devise zu vertreten: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten!«

So ist es nur logisch, daß sie der parlamentarischen Demokratie immer ihre Stimme verweigerte. Doch im November ist die Fünfzigjährige zur österreichischen Botschaft gegangen und hat zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stimme abgegeben. »Dieser Haider läßt einem ja keine Wahl! In Kitzbühel stellte die FPÖ den Bürgermeister! Also bin ich auf die Botschaft gegangen und habe mein Kreuz gemacht.« Sie hebt die Schultern und lacht: »Man braucht eben den richtigen Feind!«

Adrett
Foto: Michael Hughes
Der Feind war immer gegenwärtig. In all den Jahren, in denen sie in verschiedenen politischen Organisationen arbeitete, sich in der Flüchtlingshilfe engagierte, sich Nächte mit Diskussionen um die Ohren schlug. Doch heute geht sie nur noch selten zu den Gesprächsrunden der Linken. Sie konnte irgendwann nicht mehr zuhören. Sie wurde müde. »Nach zwei Stunden bin ich k.o. Und das ist ganz hinderlich für die Revolution!« Sie lacht. Sie sitzt am Tisch, die Hand möchte durchs silberblonde Haar fahren, da stößt sie mit einer fahrigen Bewegung das Weinglas um. »So ist das eben!«, sagt sie und lacht noch einmal. Sie lacht viel. Denn dieses Lachen ist jetzt ihre stärkste Waffe. Mit diesem Lachen kämpft sie gegen ihren bislang größten und hartnäckigsten Feind.

Jenen Feind, der sie 1988 in Kitzbühel endgültig aus dem Rennen warf. Als sie nicht mehr alleine aufstehen konnte, weil die Beine so schwach waren. Den Feind, der sie nach 20 Jahren den Arbeitsplatz in der Anwaltskanzlei kostete. Weil sie die Treppe nicht mehr hinaufkam. Den Feind, der ihr im Nacken sitzt, wenn sie auf der Bergmannstraße Vollgas gibt und plötzlich ausschert, um die Spur zu wechseln und wie ein Geisterfahrer gegen den Strom zu fahren, ohne Licht, mit ihrer lächerlichen Spitzengeschwindigkeit von 5 Kilometern in der Stunde. Jenen Feind, dessen mögliches Lauern die Mutter der jungen Tochter so hartnäckig verschwiegen hatte, weil sie selbst längst gegen ihn kämpfte. Aber als Beatrice Frings 34 Jahre alt war, stellte er sich plötzlich auch ihr in den Lebensweg. Der Feind heißt Multiple Sklerose.

wild
Foto: Michael Hughes
wild
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Manchmal sieht es aus, als hätte er gewonnen. Als hätte er sie aus dem Rennen geworfen. In Kitzbühel zum Beispiel. Sie fühlt sich fehl am Platz in diesem Dorf der gutgelaunten Skiurlauber. »Außerdem ist das Kaff absolut nicht behindertengerecht.« Auch in Kreuzberg fühlt sie sich manchmal etwas disqualifiziert, fährt irgendwie außer Konkurrenz, rollt mit ihrem schweren Stuhl einem Passanten über die Füße, und der beginnt, sich eifrigst zu entschuldigen! Und wenn sie auf den Demos durch die Absperrung fährt, stellt sich ihr nicht einmal mehr die Polizei in den Weg. »Ich warte ja immer darauf, daß die mich irgendwann einmal zurückpfeifen bei meinem wilden Fahrstil. Und – das muß ich ehrlich sagen: daß die Bullen mich noch nie angehalten haben, das ärgert mich!« Schließlich war die Polizei ihr treuester Feind.

Sie erzählt das alles und lächelt. Etwas müde manchmal, etwas mutlos an schlechten Tagen. Aber es ist ein echtes Lächeln geblieben. Es gibt andere, Berühmtere, die im Rollstuhl sitzen und noch immer Politik machen. Denen ist das Lächeln allmählich zu einer Grimasse geraten. »Man wird ja durch den Rollstuhl auch nicht besser!«, sagt sie. Und gibt Gas. Wenn sie zu schnell in die Kurve geht, fällt der Kopf auf die Seite. Als säße sie in einem der 300 km/h schnellen Formel-1-Boliden, als müßten ihre Muskeln gegen eine gewaltige Fliehkraft ankämpfen. Aber sie gibt Gas. »Ein bißchen Abenteuer muß schon sein.«

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