Kreuzberger Chronik
Februar 2003 - Ausgabe 44

Die Literatur

Antje Rávic Strubel - Fremd Gehen


linie

von Antje R?vic Strubel

1pixgif
In der U-Bahn war es stickig. Daniel lief der Schweiß zu den Hand-gelenken und von dort in die Hände. Als er ausstieg, wollte er dringend eine rauchen, untersuchte seine Taschen und fand nichts. Der Zeitungsladen war keine fünf Minuten entfernt. Aber er ahnte, daß das Gerüst und die Handwerker und der LKW spurlos verschwunden sein würden, und betrat hastig die nächste Kneipe auf dem Kottbusser Damm. Es war eine häßliche Plastikspelunke. Lichterketten hingen an den Fenstern. Der Zigarettenautomat stand unter einem chinesischen Bild, ans dem ständig Wasser fiel und dann über eine unsichtbare Rolle auf der Rückseite des Bildes wieder zurück an den Anfang des Wasserfalls transportiert wurde.


Im Münzschlitz des Automaten spiegelte sich ein grünes Basecap. Das Basecap war so klein wie der Münzschlitz, nicht größer als ein Finger-nagel. Daniel legte einen Daumen auf den Schlitz, was sinnlos war, denn der Alte stand nur wenige Schritte hinter ihm.
Mechanisch griff er nach seinem Portemonnaie und warf das Geld ein. Die Münzen klackerten im Inneren des Gehäuses, als fielen sie durch die Gehirnwindungen im Kopf des Alten. Auf dem Weg durch die Höhen und Täler des Denkens machte das Geld eine Verwandlung durch. Es war nicht mehr bloß Geld für Zigaretten, es wurde elementar. Nackt. Es wurde entsetzlich wichtig, weil es seine letzte Hoffnung war.
Daniel warf Lösegeld in den Automaten, eine enorme Summe, und erst auf der Straße stellte er fest, daß er Lucky Strike erwischt hatte. Er ging noch einen Schritt in normalem Tempo. Dann rannte er, obwohl er wußte, daß der Alte ihm hinterhersah. Er stürzte, ohne sich noch einmal umzudrehen, in die Bäckerei.

Vor den Auslagen ging er auf Zehenspitzen und flüsterte mit dem Kinn knapp über der Ladentheke: »Gibt’s schon was Neues?«
»Hier is immer alles frisch«, sagte die Bäckersfrau laut. »Weeste doch, oder? Da kommste doch nu oft genug!«
»Ich meine, wegen dieser Ufergeschichte.«
»Kannste dich ma ’n bißchen klarer ausdrücken? Wat ’n für ’ne Ufergeschichte?«
»Neulich, Sie wissen schon, der Unterschenkel!«
»Nu mach mir ma keene Angst«, sagte die Bäckersfrau und lachte. »Ich bin froh, wenn ma nüscht passiert uff unserm Planeten und ’n paar Linke fest im Sattel vonner Regierung sitzen.«
»War nicht noch mal jemand hier? Von der Polizei, meine ich.«
»Wat is ’n los, Kleener, wat willste denn jetzt?«
»Sie haben mir doch persönlich die taz geschenkt, wo ’s drinstand. – Ich will ja nur wissen, ob sie was Neues gefunden haben. Das war doch ein Riesending hier!«, sagte Daniel jetzt ebenfalls laut und drehte sich zu der Schlange hinter ihm. »Das Ufer war abgesperrt! Kann doch nicht sein, daß jetzt keiner mehr was davon weiß! Aber klar. Wahrscheinlich ist heute Dienstag statt Freitag, und die Außerirdischen kommen!«, rief er.
»Nu ma piano«, sagte die Bäckersfrau. »Seit wann interessiert’n euch Studies, ob Freitag is! Schön wär’s ja. Dann hätt ick mich aber schon längst von hier wegjebeamt.«
»Und Sie«, sagte Daniel. »Sie haben doch noch selbst gesagt, die bei der Polizei können auch nur noch Wasserwerfer lenken, was übrigens stimmt.«
»Schön dit mit den Wasserwerfen, aber darf’s jetze ma wat sein?«
Er kam sich armselig vor, fehl am Platz, mit brennenden Augen und schiefgetretenen Schuhen, die Leute drängten ihn gegen das Glas der Theke, und an der Bäckersfrau klebte der Geruch verbrannter Plätzchen. Als er zurücktreten wollte, krachte sein Kinn auf die Ladentheke.
»Ein halbes Vollkorn und vier von den H-Milch«, murmelte Daniel, ohne aufzusehen, und war erstaunt, wie hart sein Blut schmeckte. Er bezahlte. Vor der Ladentür zögerte er, bis das Glas beschlug und ihm die Sicht auf den Alten nahm, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen mußte. Dann zog er ab.

(Entnommen aus Antje Rávic Strubel, Fremd Gehen, marebuch-verlag, 18 Euro) <br>

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg