Kreuzberger Chronik
Juli / August 2002 - Ausgabe 39

Die Geschäfte

Radio Art


linie

von Jürgen Jacobi

1pixgif
Die Zossener Straße hat zwei ganz unterschiedliche Enden. An einem, in Höhe der Markthalle, geht es meist lärmend zu. Am anderen ruhig und beschaulich. Und ausgerechnet dort, wo konsumfreudige Kreuzberger selten ihrem Einkauf nachgehen, gibt es exklusive Ware: Radiogeräte historischen Alters und nostalgischen Aussehens.

Herr Schmahl hat nicht die Laufkundschaft im Blick. Eher schon seine Lieblinge, die er im Lauf der Jahre um sich geschart hat. Auch wenn manchmal nur wenige Sonnenstrahlen durch die Schaufenster seines Ladens dringen und die Geräte um ihn herum im Halbdunkel stehen. Wenn nicht gerade lärmende Schulkinder den alternden Schäferhund des Herrn Schmahl zu einem Knurren verleiten, dann umgibt die Veteranen der drahtlosen Kommunikation museumshafte Stille.

Sie heißen Caprice und Amato, Wicking oder – weniger romantisch – einfach nur Typ Rfe19a. Das Paradoxe ist, daß sie mit zunehmendem Alter ihre Anziehungskraft steigern. Zu Dutzenden stehen sie da, schweigend warten sie auf ihre Liebhaber. Die meisten von ihnen im braunen Holzdesign ihrer Zeit. Nur wenige in Metallgehäusen, versehen mit geheimnisvollen Glasröhren und Drehknöpfen, Buchsen für Antennen oder Kopfhörer. Sie erinnern an klassische Spionagefilme oder die Kommandozentrale der Nautilus. Einige sind in ihrem Aussehen so drollig, daß sie als Zeitmaschine in der Augsburger Puppenkiste fungiert haben könnten.

Manchmal lassen ein paar eindringende Sonnenstrahlen ein besonders schönes Gehäuse mit Edelholzfurnier in rotgoldenen Farben leuchten, und die Vergangenheit erstrahlt im schönsten Licht. Fast sieht man Lili Marleen unter der Laterne stehen, und Lale Andersen singt so traurig und tapfer, daß einem wunderschön bang ums Herz wird. Das Medium macht ergriffen. Darum der Griff zum Medium.

Radios
Foto: Dieter Peters
Sie hießen Rundfunkempfänger oder Hörfunkgerät, zu Zeiten nationalsozialistischer Begriffsprägung Volksempfänger, neudeutsch nennt man sie Ghettoblaster oder einfach nur Radio. Wie immer man sie auch nennen mag, ihre suggestive Macht hat trotz des großen Bruders – der in Zukunft wohl digitalen Glotze – die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Generationen gehörig beeinflußt. Der Anblick eines alten Radios ist meist untrennbar mit der Erinnerung an starke Gefühle verbunden.

Vielleicht nicht immer so dramatische, wie sie etwa betagte Amerikaner beim Betrachten der alten Geräte empfinden mögen. In den Anfängen des Rundfunkzeitalters, am 30. Oktober 1938, versetzte ein gewisser Orson Welles die Bevölkerung an der Ostküste der USA mittels eines Hörspieles in Massenpanik. Er ließ die ansonsten eher gottesgläubigen Amerikaner über den Sender CBS glauben, eine Invasion von Marsmenschen habe die USA heimgesucht. Zehntausende blockierten in Panik die Straßen der großen Städte, fielen auf die Knie um zu beten, oder stürmten die Kirchen als letzten Zufluchtsort.

Ein Jahr später, im September 1939, kündeten die Rundfunkanstalten weltweit vom Beginn einer wirklichen Katastrophe. Vorstellbar ist, daß einige der Geräte in Herrn Schmahls Laden in verschlossenen Zimmern und mit gedämpfter Lautstärke auf Feindempfang geschaltet waren. Seit dem 1. September 1939 war dies »ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit« und wurde »auf Befehl des Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet«.

Ob ihre Besitzer in banger Erwartung vor dem Rundfunkempfänger saßen, oder ob ihnen das Herz in freudiger Erwartung großdeutscher Zukunft schlug, die Radioapparate geben darüber keine Auskunft. Sie stehen da, im Halbdunkel, still und ergeben wie alles, was nur als Mittel zum Zweck dient. Fakt ist, daß die Zahl der Rundfunkteilnehmer 1934 etwa 5 Millionen betrug – eine rasante Zunahme, verglichen mit 467 Teilnehmern im Jahre 1923. Doch Zahlen und Statistiken erklären nicht den Zauber der alten Geräte. Eher vielleicht die Technik. Zumindest Herr Schmahl umschreibt seine Leidenschaft für Detektoren und Transistoren, Lautsprechermembranen und Röhren mit Begriffen aus der Technik.

»Die ältesten Geräte sind die offenen Röhrenempfänger oder die Detektoren. Detektoren waren Geräte, die ohne Verstärker den Ortssender empfangen konnten. Man brauchte nur eine Antenne, auf dem Detektor angebracht. Das Herzstück des Detektors ist ein Kristall, früher ein Bleiglanzkristall, mit dem man einen Gleichrichtereffekt erzeugen konnte. Und dann benötigte man noch einen Kopfhörer. Zur Zeit der großen Arbeitslosigkeit in den zwanziger Jahren haben sich viele Bastler ihre Detektoren selbst gebaut. Radios waren zu teuer.«

zigarrenkisten-detektor
Foto: Dieter Peters
Herr Schmahl kramt in einer kleinen Schachtel und präsentiert ein matt schimmerndes Mineral. »Das ist Bleiglanzkristall. Es wurde mit einer speziellen Halterung auf dem Detektor montiert und mit einer verstellbaren Stahlspitze abgetastet, bis eine Stelle gefunden war, an der ein Gleichrichtereffekt eintrat, also eine Diode entstand. Mit einem angeschlossenen Kopfhörer konnte man dann den Ortssender hörbar machen.«

Also doch wieder nur die männliche Faszination an der Technik anstatt starker Gefühle? Bei Frau Schmahl ist es jedenfalls umgekehrt. Sie weiß auf Anhieb von einer Kindersendung des RIAS zu berichten. Die hieß »Onkel Tobias vom RIAS«. In ihr tauchte ein unvergeßliches Wesen mit einem seltsamen Namen auf: »Schiebmichdrückmich« oder so ähnlich. Die bitteren Tränen der Frau Schmahl liefen, wenn ihr das Hörspiel vorenthalten wurde. Das Medium als Erziehungsmittel der fünfziger Jahre.

Herr Schmahl wirft einen nachdenklichen Blick auf seine Schätze aus der Pionierzeit des Radios, und dann fällt ihm doch noch ein prägendes Erlebnis aus der fernen Zeit ein. Aus Angst vor der Bombardierung Kölns war er als kleiner Junge mit seiner Familie ins Erzgebirge umgesiedelt. Von dort konnte man die Rundfunksendungen aus Dresden empfangen. Eine dieser Sendungen wurde plötzlich unterbrochen. Es herrschte Schweigen im Äther. Es war der Tag der Bombardierung Dresdens. Für den fünfjährigen Jungen am Radio war die Verbindung zur Welt abgebrochen.

Jetzt, im Laden in der Zossener Straße, ist sie wieder da. Sogar zu den Gefühlen. Auch wenn sie in der Vergangenheit verborgen sind. <br>

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg