Kreuzberger Chronik
Oktober 2001 - Ausgabe 31

Die Literatur

Amanda Michalopoulou: Paprikabagel


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von Amanda Michalopoulou

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1996 bin ich auf Schloß Wiepersdorf, im Rahmen eines Stipendiums für europäische Schriftsteller. Sechs Monate auf dem Land – eine tolle Sache. Aber ich fürchte, daß ich in der Einöde durchdrehe. Ich bin ein Stadtkind – zudem befinden wir uns gerade achtzig Kilometer von Berlin entfernt. Ein griechischer Freund erzählt mir von Heidi, die in Kreuzberg lebt und die ich, wie er meint, kennenlernen muß.

Es schneit ununterbrochen, als ich am Halleschen Tor ankomme. Das erste, was ich sehe, ist die auffällige Kirche aus rotem Backstein, die fünf Gehminuten von Heidis Wohnung in der Brachvogelstraße liegt. Heidi begrüßt mich mit Tsikoudia, kretischem Tresterschnaps. Sie liebt die Insel Kreta. Ihre Wohnung ist winzig, ein einziger Raum, trotzdem bietet sie mir an, die Nacht auf ihrem ausziehbaren Sofa zu verbringen. In zwei Tagen fährt sie nach Kreta. Sie wird ein ganzes Jahr bleiben. Spontan drückt sie mir die Schlüssel in die Hand. »Du kannst kommen, wann immer du willst, fühl dich wie zu Hause.«

Bin ich so unwiderstehlich, oder gibt es tatsächlich Deutsche mit griechischem Temperament? »Wohl beides«, entgegnet Heidi, und an diesem Abend trinken wir bis zum Umfallen. Von ihrem Balkon aus sehen die kleinen Lichter an der roten Kirche wie Glühwürmchen aus. Der Tsikoudia ist schuld, andererseits auch der innere Ortswechsel. Ich befinde mich in meinem neuen »Heim«, in Kreuzberg.

An den Wochenenden komme ich immer nach Berlin. Heidis Balkon geht auf die Zossener Straße; den ganzen Tag beobachte ich Jungen auf Fahrrädern, Mädchen auf Inline-Skatern, kleine wurstähnliche Hunde und Überbleibsel der Punkbewegung mit eindrucksvollem Haarschmuck. Eines Tages sehe ich auch einen Mann mit großen Ohren, sehr bleicher Haut und hellen Augen. Die Verzweiflung in seinem Blick rührt und erschreckt mich – er muß aus Osteuropa kommen, aus Ungarn oder Tschechien. Er sieht Franz Kafka ähnlich. Am liebsten würde ich vom Balkon herunterspringen und ihn ansprechen, doch an dem angstvollen Blick erkenne ich, daß er Ausländer ist und seine Einsamkeit schmerzlich und genüßlich zelebriert. Sein Deutsch ist sicherlich erbärmlich, so wie meines. Was sollten einander zwei Menschen mit einem Wortschatz von zweihundert Wörtern an einem Kreuzberger Winternachmittag zu sagen haben?

Da ich nicht mit ihm sprechen kann, mache ich ihn zum Helden einer Geschichte. Traurige schriftstellerische Kunstgriffe: Menschen werden zu Wörtern und, wenn sie Glück haben, werden sie wieder zu Menschen. Das, was ich darstellen möchte, ist eine Begegnung, die – statistisch gesehen – absolut danebengehen müßte: zwei Unbekannte, die nicht dieselbe Sprache sprechen – er aus dem Osten, sie fast aus dem Westen – treffen sich in einer Großstadt. Und dennoch schaffen sie es. Sie erfinden eine witzige eigene Sprechweise, so etwas wie Kindergartendeutsch. Wer sie hört, muß lachen. Aber es wird sie niemand hören. Denn es handelt sich um eine Privatsprache.

Die Idee geht mir noch durch den Kopf, als ich in die Markthalle gehe, um Obst zu kaufen. Meine Deutschkenntnisse sind minimal. Ich befürchte, daß der Obstverkäufer merkt, daß ich eine Ausländerin bin, sobald ich den Mund aufmache, und mir dann verdorbenes Obst andreht. Noch schlimmer wäre es, wenn der Mann mit den großen Ohren auftauchte und ich etwas ausdrücken wollte, das mit Gefühlen zu tun hat, während ich auf Deutsch nicht einmal anständig grüßen kann. Fangen wir bei den grundlegenden Dingen an, würde ich zu ihm sagen. Was bedeutet Brachvogel, der Name der Straße, in der ich wohne? Er wird wahrscheinlich auf einen schwarzen Vogel deuten, der über unseren Köpfen den Himmel durchquert und sagen: »Da ist er«. Bild und Begriff würden zusammenfallen, wie in unseren Schullesebüchern.

Um meiner unüberwindlichen Sehnsucht nach dem Orient zu entfliehen, trinke ich Kaffee bei Barcomi’s in der Bergmannstraße, dazu esse ich ein Bagel. Keine Reaktion. In Kreuzberg, mitten im Westen, sehe ich Türkinnen mit Kopftüchern und bin gerührt. Ist es vielleicht die uns auferlegte europäische Einförmigkeit, die mich empfänglich macht für das Gefühlsdunkel, die Pfefferoni und den Blick der Menschen, die man zusammenfassend entweder Balkanbewohner, Orientalen oder Mitteleuropäer nennt? So viele Jahre dürstete ich nach dem Westen, nach französischen Restaurants, Rationalismus, Gefühlskälte und großen Supermärkten. Jetzt bin ich auf der Suche nach Schildern mit Schreibfehlern, ein bißchen Paprika, kleinen Läden. Ich kaufe Oliven bei einem türkischen Gemüsehändler und Bücher bei deutschen Buchhändlern in der Bergmannstraße. Wenn es Abend wird, kehre ich auf Heidis Balkon zurück und begegne einem fast existentialistisch anmutenden Ort: der finstere Schatten der Kirche mit den kleinen Lichtern – ein überaus melancholischer Weihnachtsbaum.

Der Frühling kommt. Die Spaziergänge am Kanal, kurze Hosen, Sonnencreme, Sonnenhunger. Der Mann mit den großen Ohren schlendert ebenfalls die Kreuzberger Strandpromenade entlang. Ich habe den Gedanken, ihn anzusprechen, aufgegeben. Es genügt mir, daß es ihn gibt, daß er mich zwingt, ein wenig anders als sonst zu denken. So trete ich ein Stückchen aus mir selbst heraus. Ich öffne mich der Welt, dem geheimnisvollen Gefühl, daß wir uns hier befinden, nicht um eine verwandte Seele zu entdecken, wie man uns in den Märchen beigebracht hat, sondern etwas ganz anderes, etwas eigenartiges: ein Glühwürmchenlicht, ein Stück faules Obst, Paprikabagel.

Ich kehre nach Griechenland mit der Idee für einen Roman zurück, die in den Straßen von Kreuzberg Gestalt angenommen hat. Heute hat dieses Buch einen Titel, einen Umschlag, eine deutsche Übersetzung. Doch für mich ist es schon wieder zerlesen und zerfleddert, und dadurch unwirklich: Denn wie soll man ein fremdes Leben leben, mit einer geliehenen Sprache, auf der Jagd nach einem Gespenst? Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß das schließlich fast allen Romanen passiert.

Jedes Mal, wenn ich nach Berlin zurückkehre, um meine Freunde zu besuchen oder an Lesungen teilzunehmen, nehme ich ein Taxi und fahre in die Brachvogelstraße. Das ist mein ganz persönliches, verdrängtes filmisches Erlebnis: Ich bezahle den Taxifahrer, werfe schwungvoll die Wagentür zu, nicke Heidis Balkon zu (der ihr leider nicht mehr gehört), und dann gehe ich den Kanal bis zum Café am Ufer entlang und treffe auf Radfahrer, Pärchen, die sich leidenschaftlich küssen, Hunde, die am Gras schnüffeln. Der Fluß entspricht einer inneren Landschaft. Die Fahrräder, die Pärchen und die Hunde haben ebenfalls symbolische Bedeutung.

Jerome Charyn erzählte mir einmal, daß er Berlin nur besuche, wenn man ihn im Kempinski, dem Hotel der Spione, unterbrächte. Jedem seine persönliche Mythologie. Wenn ich wählen könnte, würde ich mich für das Zimmer in der Brachvogelstraße entscheiden. Rede ich wirres Zeug? Aber wir haben doch alle den Drang, an der Türklingel einer Wohnung zu läuten, in der wir wichtige Augenblicke erlebt haben. Es geht nicht nur um ein Zimmer, sondern um eine Herberge für die Seele: Fast fordern wir von den neuen Bewohnern, uns dort schlafen zu lassen.

Hört zu, ihr Leute aus der Brachvogelstraße 4, falls ihr diesen Text lest: Könnte ich vielleicht für einen Nachmittag vorbeikommen? Ich bin sehr diskret, nur eine Zigarette will ich auf dem Balkon rauchen und dann gehen. Ich möchte mich an diesen Zustand der völligen Schwäche erinnern, die mich 1996 befallen hatte, nämlich die Angst, daß alles nur Sprache ist. Ich möchte diesen Einakter im Geiste noch einmal durchspielen: eine Frau auf dem Balkon, ein Mann auf der Straße. Ob sie sich wohl jemals getroffen haben?

(Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger) <br>

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