Kreuzberger Chronik
Oktober 2001 - Ausgabe 31

Die Kritik

Die »Erben der Scherben«


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von Friedrich Schlegel

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Es ist keine schlechte Angewohnheit, ab und zu Verstorbener zu gedenken. Sei es mit einem Gang auf den Friedhof, sei es, daß man ein Gläschen trinkt auf jene, die nicht mehr da sind. Pünktlich zum fünfjährigen Todestag von Rio Reiser erinnert Christoph Schuch mit einem Dokumentarfilm an eine Legende aus Kreuzberg: Ton Steine Scherben. Die Pünktlichkeit wird sich gelohnt, der Film sein Geld wiedereingespielt haben. Noch im September fanden sich genügend Gedenkende, um das kleine Kino in der Dresdener Straße gut zu füllen.

Obwohl die Dokumentation erstaunlich langweilig ist. Aber das hat sich im vertratschten Kreuzberg noch immer nicht herumgesprochen. Schier endlos ist die Reihe der Interviewpartner, die alle das gleiche erzählen: Nämlich daß es die Scherben einmal gab, daß die Scherben einmal gut waren und daß es die Scherben nicht mehr gibt. Daß die Zeit der Scherben endgültig abgelaufen und der Traum ausgeträumt ist. Einstimmig erklärt die versammelte Musikermannschaft, daß Musik heute mit Politik nichts mehr zu tun hätte. Was deprimierend und angesichts des deutschsprachigen Punk noch dazu eine Lüge ist.

Das falsche Bild von der untergegangenen Agitpropkultur kommt zustande, weil der Altersdurchschnitt der Interviewten um ca. 20 Jahre zu hoch liegt. Weil vor allem jene zu Wort kommen, die lieber einen sentimentalen Blick zurück werfen als einen mutigen Blick nach vorn. Auch der Filmemacher Christoph Schuch ist nicht jung geblieben. Noch immer hält er die Kamera wie in den 60ern auf Industrieanlagen, verrostete Gleise, Müllkippen, Mahnmale des Industriezeitalters. Dann wiederum verfolgt er die Langhaarigen durch die Gänseblümchenwiesen, sitzt mit ihnen am Frühstückstisch und trinkt Kaffee oder filmt die Truppe der Scherben in der friesischen Idylle mit Bauernhof. »Das war das Paradies!« Nicht nur einmal bedient sich Schuch der altertümlichen Kameraführung, nicht mit distanziertem Blick, nicht als witziges Zitat, sondern den ganzen Film hindurch und voller Ernst.

Dabei gäbe es so vieles zu erzählen aus der Zeit der Scherben. Vom Anfang und vom Ende der Band, von den großen Konzerten in den kleinen Dörfern und den kleinen Konzerten in der großen Stadt, von der Besetzung des Bethanien, von Verfolgungen und Verboten, von Kreuzberg und von Berlin. Die besorgten Mütter der Söhne hätten zu Wort kommen können, die Politiker, die die Scherben in ihren Texten anprangerten, und nicht zuletzt die Bullen vom Mariannenplatz. Geschichten über Geschichten … – doch die Erzähler in Schuchs Film reden vor allem über Musik. Denn die Erzähler sind selber Musiker, sie haben selber einmal mit den Scherben gespielt oder sie sind zumindest die »Erben der Scherben«, und sie heißen »Tocotronic« oder »Die Sterne« oder »Element of Crime«.

Von der Kreuzberger »Kampfkapelle«, die mit zwanzig Mark in der Tasche für zwanzig Leute einklaufen ging, die auf gagenlosen Solidaritätskonzerten auch noch ihre Wurstbrote bezahlen sollte und die irgendwann nach Friesland flüchtete, um »in Ruhe Musik machen zu können«, davon erzählen nur einige wenige und viel zu kurze Anekdoten. So wartet man im Kinosessel lange und umsonst, wie zufällig endet der Traum irgendwann nach 90 Minuten, ohne zuvor irgendeinen Höhepunkt angesteuert oder gar erreicht zu haben. Kai Müller diagnostizierte im Tagesspiegel einen »Mangel an Tatendrang«, der den Film durchziehe, »wie ein zäher Bandwurm«, und »ihm jegliche dramaturgische Spannung« raube.

Einzig die wenigen Momente, in denen Rio Reiser zum Mikrofon greift, in denen das Schlagzeug ihn vorantreibt, wenn es sich anhört, als würde die Stimme das nicht mehr lange mitmachen, weil er es schon viel zu oft geschrieen hat, und wenn er es dann doch noch einmal rausschreit: Macht kaputt, was Euch kaputt macht! – einzig diese wenigen Momente sind es dann beinahe doch noch wert, ins Kino zu gehen und sich an versalzenen Erdnüssen die Zähne auszubeißen. <br>

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