Kreuzberger Chronik
Juni 2001 - Ausgabe 28

Die Kritik

Das Jazzfest


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von Michael Unfried

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Einst gab es die großen Biergärten rund um den Kreuzberg, angelegt in den Höfen und Vorgärten der Brauereien, die sich um den höchsten Sandhaufen Berlins versammelt hatten. Im Schatten der Kastanien, vor sich auf dem Tisch einen kühlen Liter, kämpfte der Berliner gegen die Hitze an, und auf der Bühne spielte eine Blaskapelle.

Heute erinnern nur noch einige Straßenfeste an die großen Versammlungen der Biertrinker unter Berlins sommerlichem Himmel, doch mit der zünftigen Blasmusik ist es endgültig vorüber – auch wenn in den dichten Wäldern Bayerns unter der Führung eines gewissen Alois Moik noch einige versprengte Militärkapellen die Stellung zu halten versuchen.

In Kreuzberg sind sie ausgestorben. Die Kreuzberger hören Jazz zum Bier und essen Chinapfannen und Scampis statt Würstchen und Sauerkraut. Denn der Jazz ist so tolerant wie der Kreuzberger. Er ist stets offen für alles, was klingt, und wenn irgendwo auf der Welt jemand einen neuen Rhythmus, einen neuen Sound entwickelt, dann saugt der Jazz ihn auf wie ein durstiger Mann im Sommer das Bier.

Doch davon war auf dem letztjährigen Jazzfest in der Bergmannstraße wenig zu spüren: Drei Tage lang gutgelaunter »Dixie vom Feinsten« wie schon vor fünfzig Jahren auf Bonner oder Darmstädter Wiesenfesten. Drei Tage lang der ewige Rhythmus des Bebop und das Trompetengebläse von schunkelnden Big-Bands in Kordhosen mit Gürtel, das ständige Rauf und Runter der lustigen Klarinetten und das nach Jazz klingende Gequietsche mittelmäßiger Saxophonisten. Auf der Bühne die dickbäuchigen Leiber verstaubter Kontrabässe, passend dazu an den Tischen dickleibige Biertrinker und heimliche Würstchenesser. Familien mit gelangweilten Kindern, die im unendlich langsam kreisenden Karussell auch nicht so recht in Stimmung kommen. Das letztjährige Fest im weltoffenen Kreuzberg ließ wenig hören vom revolutionären Charakter des Jazz.

Doch auch, wenn sich die Kreuzberger Jazzfestorganisatoren ausgesprochen konservativ präsentieren, und wenn Punk, Funk, Rock oder gar Techno bei den alternden Kreuzbergern keinen Eingang mehr finden in die sensiblen Gehörgänge, bleibt die Polizei auf der Hut wie in den Roaring Sixties: Während man in der Bergmannstraße brav musizierte, standen in den Seitenstraßen die Streifenwagen. Genaugenommen war das fröhliche Fest im vergangenen Jahr hermetisch abgeriegelt, niemand kam oder ging, ohne am Ein- oder Ausgang einem der Wachhabenden ins Auge blicken zu müssen.

Und während die Gewerbetreibenden unter ihren Planen selbstgestrickte Pullover, Nackensteaks und Räucherstäbchen feilboten, versuchte sich die Polizei selbst zu vermarkten. Um den vom Verbrechen bedrohten Kreuzberger vor Schaden zu bewahren, ließ die »Polizei im Kiez« Videoaufzeichnungen von Handtaschenräubern und anderen kriminellen Elementen in der Großstadt vorführen. Auf den Holzbänken im olivgrünen Zelt saßen Kinder wie im Kaschperltheater und fürchteten um die Großmutter.

Eine Seitenstraße weiter wurden diverse Schlagwaffen, Flitschen und Messer ausgestellt. Am Eingang zur Bergmannstraße agitierte ein junger Wachtmeister mit historischem Polzeihelm und verteilte sachdienliche »Hinweise für die Einstellung in den gehobenen Dienst der Kriminalpolizei«. Da stand zu lesen, daß der künftige Beamte »Deutsche/r im Sinne des Artikels 116«, mindestens eine Körpergröße von 1,60 m und in Besitz einer Fahrerlaubnis für Personenkraftwagen sein müsse.

So zeigte die »Polizei im Kiez« Präsenz. Nebenbei behielt sie alles im Auge, nötigte lächelnd Fahrradfahrer zum Absteigen, sortierte Betrunkene aus, achtete auf die Nachtruhe und verfolgte verdächtige Ausländer mit skeptischen Blicken. Es scheint, als hätten sich die Kreuzberger endlich mit ihrer Polizei vertragen.

Auf die Polizeikapelle jedoch werden die Jazzer auch in diesem Jahr verzichten müssen. <br>

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