Kreuzberger Chronik
Juli / August 2001 - Ausgabe 29

Die Literatur

Florian Nelle: »Kalter Frühling«


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von Florian Nelle

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Diesmal würde er nicht entkommen. Als sie im Erdgeschoß ankam, warf er gerade die Haustür hinter sich zu. Sie hörte, wie er den Schlüssel im Schloß umdrehte. Fluchend rüttelte sie an der Tür. Dann hastete sie die Stufen wieder hoch. Auf halbem Weg zum ersten Stock war ein Fenster. Sie riß es auf. Einen Moment später stand sie auf dem Wellblechdach der Restaurantterrasse, sprang in den Hof hinab und raste durch den Torweg. Kasunske verschwand gerade im Durchgang zum Kottbusser Tor. Sie rannte hinterher, aber am Kotti war nichts von ihm zu sehen. An den Straßenrändern vorbei bahnte sie sich einen Weg zur U-Bahn, entschied sich für die Linie 1 und sprang die Rolltreppe hoch. Am Kiosk standen ein paar Leute und lasen die Schlagzeilen der Tageszeitungen, ansonsten war die Halle ziemlich leer. Das Licht, das durch die dreckigen Glasscheiben des alten Stahlträgerdaches fiel, überzog Dinge und Menschen mit einem diffusen grauen Schleier. Sie erkannte Kasunske an seiner Silhouette. Er stand am Ende des Bahnsteigs, und sein Körper hob sich schwarz gegen das seitlich hereinströmende Licht ab. Er mußte sie im gleichen Moment gesehen haben wie sie ihn. Ein Ruck lief durch seinen Körper. Sie ging langsam auf ihn zu. Sie wußte, daß der Eingang am Ende des Bahnsteigs gesperrt war. Aber sie hatte kaum den ersten Schritt getan, da sprang er auf die Gleise und lief in Richtung Prinzenstraße. Sie rannte fluchend und mit einem Seitenblick auf den Stromleiter hinterher. Er hatte gut fünfzig Meter Vorsprung, aber bis zur Prinzenstraße würde sie ihn eingeholt haben. Das schien
er auch zu denken. Jedenfalls wurde er noch ein bißchen schneller. Es machte nicht den Eindruck, als würde er dieses Tempo durchhalten. Sie versuchte, sich auf ihre Schritte zu konzentrieren. Nur nicht stolpern, dachte sie, und warf einen zweiten Blick auf die Stromleiter. Der Bahnhof Prinzenstraße war schon zu sehen, und die Distanz zu Kasunske deutlich zusammengeschmolzen. Seine Beine erlahmten, einmal wäre er fast gestolpert. Plötzlich begann der Boden unter ihr zu vibrieren, und sie hörte ein leichtes Kreischen von Metall auf Metall. Diana drehte sich kurz um. Die U-Bahn war bedrohlich nah. Ihr blieb keine Zeit, lange nachzudenken. Die Züge fuhren seit langem ohne Fahrer, und die Leute in der Überwachungszentrale warfen nur gelegentlich einen Blick auf die Monitore. Kurz entschlossen sprang sie auf den schmalen Steg an der Außenseite der Brücke. Gerade, als der Zug an ihr vorbeiraste, sah sie, wie Kasunske sich umdrehte. Zu spät, du Idiot, dachte sie. Dann ratterten die Wagen vorbei. Aber sie wartete vergeblich auf den Aufprall. Er mußte sich im letzten Augenblick auf das andere Gleis gerettet haben. Als sie ihn wieder sehen konnte, hatte er die Haltestelle schon erreicht und kletterte auf den Bahnsteig, an dem gerade ein Zug aus der Gegenrichtung einfuhr. Entnervt legte sie das letzte Stück bis zur Prinzenstraße zurück. Als sie die Bahnsteigkannte erklomm, schaute sie in die Mündung eines Revolvers. Das zweite, was sie sah, war der nervös aussehende Polizist, der sich dahinter versteckte.

»Okay, ganz langsam, da rüber!«
Diana tat ihm den Gefallen.
»Und jetzt erzählen Sie mir, was sie hier auf den Gleisen zu suchen haben.«»Wissen Sie, da war so ’n Kerl, der hat mir meine Handtasche einfach nicht wiedergeben wollen. Na, da bin ich eben hinterhergelaufen.«
»Ach, und wo ist der hin?« – Er zielte immer noch auf sie.
»Tja, einfach so in die U-Bahn gestiegen.«
»Haben Sie ’n Ausweis dabei?«
»Der war natürlich in der Handtasche.«

Entnommen aus: Florian Nelle, »Kalter Frühling«, Social Fantasy – 1998, Argument Verlag Hamburg <br>

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