Kreuzberger Chronik
Juli / August 2001 - Ausgabe 29

Die Geschäfte

Der kurze Weg nach »Adese«


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von Hans W. Korfmann

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Tapfer verteidigen die Deutschen ihre letzten Stellungen. Protzig steht die Bastion des Karstadtkonzerns am Hermannplatz, frisch renoviert noch einmal den alten Glanz des einst größten und modernsten Kaufhauses Berlins herausstreichend, noch einmal die Monumentalität deutscher Vorkriegsarchitektur und die Klarheit durchdachter Konzepte suggerierend. Doch schon wenige Meter weiter verliert sich der Hang zur Perfektion in orientalischem Großstadtgewusel, führt der Kottbusser Damm direkt in die Türkei. Anstelle der langen Geraden und rechten Winkel treten verschnörkelte Fußpfade, und der Fußgänger windet sich durch Tomaten und Zucchini, weicht Scharen rollerfahrender Kinder aus, manövriert vorsichtig um aufgeregt plappernde Mütter und bedeutungsvoll diskutierende Männergruppen.

Einst befand sich hier ein deutsches Kaufhaus namens »Bilka«. Jetzt heißt es »Adese«. Der fremde Name steht in großen türkischen Lettern über dem Eingang. Und wie neben den Autobahnen an der Staatsgrenze erinnert noch ein letzter Gruß in vertrauter Sprache an die deutsche Heimat: »Wo kaufen Freude macht.« Dann beginnt die Fremde.

Frau Mayer aus Osnabrück ist nur zu Besuch in der Stadt. Sie ist entzückt. Eigentlich wollte sie nach Berlin, aber wo ist sie jetzt hingeraten! Strahlende Gesichter türkischer Schlagerstars blicken ihr von den Postern entgegen, blau glänzt das Haar der musikalischen Ikonen, engelsgold fällt es über die bloßen Schultern, und auch die deutschen Lautsprecher sprechen eine andere Sprache. Statt leiser Instrumentalmusik, die den Kunden besäuselt, sorgt in Adese »Aydins Kasetkilik« für lautstarke orientalische Untermalung im Erdgeschoß des türkischen Kaufhauses. Nebenan glänzt in den Auslagen des Juweliers das Gold wie auf dem Markt von Ankara. Überall die filigranen, glitzernden Kettchen für die Damen, und diese großen Sultansringe mit den protzigen Steinen, die sich die stolzen Muselmanen auf ihre dicken Finger schieben. Es ist wie im Märchen! Wie im Urlaub! Alles liegt bunt durcheinander, Preisschilder fehlen, ein Kauf ist Handelssache. Nur, daß in Adese die Verkäufer besser Deutsch sprechen als in der echten Türkei. Sie sind auch nicht so aufdringlich wie im wirklichen Urlaub, und ihre Kleidung ist eigentlich richtig europäisch. Bis auf diese Kopftücher. Aber schließlich trug Frau Mayer auch einmal ein Kopftuch – da war sie zwanzig. Diese Mädchen sind auch erst zwanzig!

Frau Mayer nickt und geht weiter zu Feuerzeugen. Um ehrlich zu sein: Die sahen besser aus als diese deutschen Plastikkartuschen an der Kasse von Plus oder Penny. Diese Menschen haben eben noch Sinn fürs Alltägliche! Für die Kleinigkeiten, zum Beispiel silberne Schlüsselanhänger: alle edel, alle metallic – passend zum BMW, den sie noch nicht haben. Aber so ein Schlüsselanhänger ist ja mal ein Anfang. Und sie sind lächerlich billig, diese Schlüsselbunde und diese eleganten Feuerzeuge und die blauen, roten und grünen Parfums in den elegant geschwungenen Flakons. Auch die Uhren der Marke »Bronex« – eine Kreation aus Bronx und Rolex – sind spottbillig und sehen gar nicht schlecht aus.

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Foto: Nikolaos Topp
In Adese ist die Welt eben erschwinglich. Aber arm ist sie nicht. Die Einkaufswagen vor der Lebensmittelabteilung haben gewaltige Ausmaße. Solche Dimensionen erreichen im Rest Deutschlands nur Einkaufswagen von Möbelgeschäften. In den Regalen stapelt es sich bis unter die hohe Decke! Zehn verschiedene Sorten Joghurt haben sie! Die sind sogar in deutscher Sprache ausgeschrieben. Nur bei dem »G« haben sie sich vertan und oben über dem Buchstaben noch so einen Strich draufgemacht. Aber dieses Angebot: Joghurt in den üblichen 200-Gramm-Bechern, Joghurt in kleinen Eimerchen mit Henkel für die Kinder im Sandkasten, und dann dieser Joghurt in der Familienpackung. Einer echt türkischen Familienpackung! Frau Mayer strahlt: 5 Kilogramm für 9 Mark 99! Sie überlegt, wie sie das Schnäppchen am besten nach Osnabrück bringt. Dieses Problem hat sie immer im Urlaub. Sie möchte immer gleich alles mitnehmen.

So staunt sie und läuft bis in die Fleischabteilung. Angesichts des frischen, sauber in Schulter, Keule und Rippe zerteilten Lammes muß doch Karstadt am andern Ende der Straße vor Neid erblassen! Daneben liegen kunstvoll drapiert auf dem glitzernden Eis – fast so schön wie in der Schmuckabteilung – die Tintenfische, Barben und Doraden mit ihren glänzenden Augen. Wie auf dem Markt in Istanbul! Aber sauber ist es wie in einem deutschen Supermarkt! Das wundert sie am meisten von allem. Aber dann macht sie eine Entdeckung. Frau Mayer nickt. Sie hätte es sich denken können: Man putzt mit deutschen Putzmitteln! Viss steht da, Sidolin, Ajax … – lauter bekannte deutsche Namen. Überhaupt sind in der Hygieneabteilung die fremdsprachigen Schildchen fast komplett verschwunden. Einsam und allein steht ein türkisches Sampuan von »Haci Sakir« im Sortiment. Und bei den Waschpulvern vertritt das türkische »Vizir« die osmanischen Interessen. Doch es ist offensichtlich, daß die legendären deutschen Waschmittel der sechziger Jahre noch immer die Stellung halten: Omo und Sunil stapeln sich in »Adese« zu einer wahren Festung.

In der Abteilung der Hülsenfrüchte und Körner allerdings geht es auch in Adese richtig multikulturell zu. Von indischem Basmatireis über Bulgur bis zu deutschen Linsen reicht das fünfzehn Meter lange Sortiment. Beim Kaffee siegt Jacobs klar vor einer italienischen Espressomarke, erst an dritter Stelle folgt die türkische Bohne. Frostig dagegen verläuft die Grenze zwischen den beiden Gefriertruhen: Die eine beherbergt türkische Kost und vermeidet die deutsche Sprache, die andere hat Iglo und Frosta auf Eis.

Frau Mayer ist glücklich über ihre Entdeckung. Das sehen diese Touristen in ihren Bussen sicher nicht. Also erobert sie mit der Rolltreppe den ersten Stock, schlendert an »chinesischen« Vasen, gehäkelten Deckchen und Petroleumlampen vorbei, begrapscht das Spielzeug und inspiziert die Wäscheabteilung, die ihr allerdings noch etwas konservativ erscheint. Sie probiert sogar ein Kleid und denkt eine ganze Weile darüber nach, ob das Schild in der Anprobe nur ein zufälliges Relikt aus vergangenen Bilka-Zeiten ist. Denn da steht – nicht türkisch, sondern deutsch, und nur deutsch: »Im Interesse unserer ehrlichen Kunden zeigen wir jeden Ladendieb …«

Frau Mayer möchte trotzdem etwas kaufen. Da sieht sie plötzlich neben Porzellanuhren und angemalten Windmühlen einen Wurzelsepp. Eine kleine, bunt lackierte Porzellanfigur mit langem Bart und Stock. Daneben rastet ein Jägersmann auf einem Baumstumpf, den Schäferhund zu seinen Füßen. So etwas also bringen die Türken ihren Verwandten nach Hause mit, damit sie sich ein Bild machen können von diesen Deutschen. Nett eigentlich, denkt Frau Mayer, und greift beherzt zu. So kann sie nun doch noch ein echtes Souvenir aus Berlin mitbringen.

Man braucht nicht nach Ankara, Istanbul, Adana zu fliegen … – all den anderen wohlklingenden Namen, mit denen das türkische Reisebüro von Adese wirbt. Adese ist ganz nah. Zwei Schritte sind es nur vom Eingang des Kaufhauses bis zum nächsten Imbiß. Der hat schwere Geschütze aufgefahren, um das Vaterland zu verteidigen: Kartoffelpuffer, Dampfwurst, Schnitzel, Breslauer und Hamburger. Selten ist es so deutsch in der Stadt wie hier am Berliner Bosporus. <br>

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